9. November: 1938/1989
Veröffentlicht: 10. November 2024 Abgelegt unter: Deutsche Geschichte, Tagebuch Ein KommentarWir Deutsche feiern heute, am 9. November, den Mauerfall vor 35 Jahren. Ein historischer Tag der Befreiung. Ein diktatorisches Regime, das sich zynisch als „demokratische Republik“ bezeichnet hatte, fand sein jähes Ende. Zu Ende ging auch eine jahrzehntelange Zensur, mit welcher das Regime jegliche Kritik, die ihm hätte gefährlich werden können, in Wort und Schrift unterbunden hatte. Die einstigen Untertanen durften nun ihre Gedanken angstfrei äußern ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Zuvor verbotene Bücher und Zeitschriften, die in der SBZ und späteren DDR nur den Spitzenfunktionären, der Nomenklatura, zugänglich waren, waren plötzlich frei für jedermann lesbar. Nie war die Freiheit des gesprochenen und geschriebenen Wortes in diesem Land so umfassend wie in jenen Tagen, als die Wiedervereinigung Deutschlands vollendet wurde.
Rückblende zu einem anderen 9. November, dem des Jahres 1938, der berüchtigten „Reichskristallnacht“. Wie losgelassene Kettenhunde hetzte damals das NS-Regime die braunen Horden knüppelnd und brandschatzend auf die ohnehin geknechtete und entrechtete noch Deutschland verbliebene jüdische Bevölkerung. Wie war das möglich?
Bereits Jahre zuvor waren Presse und der noch in den Anfängen steckende Rundfunk im Sinne des Regimes gleichgeschaltet worden. Kritik war nicht nur unerwünscht, sondern strafbar und verboten. Mitleid oder gar das beherzte Eintreten für die entrechtete jüdische Bevölkerung durften im damaligen Herrschaftsgebiet des NS-Staates nicht publiziert werden.
In meinen Bücherschrank befindet „Der gelbe Fleck“. Das Buch, herausgegeben von Lion Feuchtwanger, erschien 1936 als Exilliteratur in Paris und erzählt in vielen erschütternden Beispielen von den Widerwärtigkeiten, mit denen die deutschen Juden schikaniert wurden. Viele überlebten die Misshandlungen nicht, andere wählten den Freitod. Das letzte Kapitel trägt die Überschrift „Das andere Deutschland“ . Es berichtet über jene, welche unbeeindruckt von Hass, Hetze und Staatspropaganda den verfolgten Juden beistanden.

Das Buch war natürlich in Deutschland verboten. Eine Ausnahme: Die Nomenklatura des NS-Staates durfte es lesen. Mein Exemplar trägt einen bemerkenswerten Stempel:

https://portal.ehri-project.eu/authorities/ehri_cb-006504?page=2
Wie gesagt: Das Erscheinungsjahr war 1936! Ich bin überzeugt: Wären diese oder andere Schriften der Bevölkerung in Deutschland zugänglich gewesen, dann hätte sich der NS-Unrechtstaat schon damals für alle erkennbar entlarvt. Das Regime hätte an Rückhalt verloren; eine „Reichskristallnacht“ hätte vermutlich nicht stattgefunden.
Was lehrt uns die Erfahrung des 9. November? Meinungsfreiheit in Wort und Schrift sind unabdingbar für das Funktionieren einer Demokratie. Nur dann, wenn sich die Menschen ihr Wissen vollständig, ungehindert und zensurfrei aneignen können, ist eine unverfälschte Willensbildung möglich. Der mündige Bürger kann und soll in Freiheit für sich entscheiden, was er für richtig hält. So groß die Versuchung im Sinne des Machterhalts auch sein mag: Regierung und Staat sollten sich aus jeder Art von Gedanken-Gängelei der Bürger heraushalten. Die Erfahrungen des 9. November 1938 wollen und sollen wir nicht wiederholen.
Schließen wir mit den letzten Sätzen aus dem Vorwort „Der gelbe Fleck“ von Lion Feuchtwanger. Geschrieben im Jahre 1936 klingen sie prophetisch:

Das deutsche Volk ist nicht identisch mit den Leuten, die heute vorgeben, es zu vertreten. Es wehrt sich gegen sie. Der Tag wird kommen, an dem es die Narren und Lumpen wegfegt, von deren Untaten in diesen Buch die Rede ist.