Niemand ist bei den Kälbern

„Niemand ist bei den Kälbern“. So lautet der Roman von 2017. „Alle Männer sind Schweine“, auch dieser Titel hätte gepasst. Ein (vielleicht ungewollt)  männerfeindliches Werk, ganz nach dem Gusto des Zeitgeistes. Dazu Klischees vom rückständigen ländlichen Osten. Und genau deswegen wurde der Film zum Buch mit über eine Million Euro öffentlich gefördert. Das nur in aller Kürze. Und nun ausführlich:

Es war ein Abend Anfang Juli. Wenn ich abends zu unkonzentriert bin für gehaltvolle Texte, aber noch nicht müde genug um den Tag zu beenden, dann fröne ich gelegentlich einer Unart: Das Zappen durch die Glotze. Normalerweise nur der übliche Schrott: Belehrungen in Talkshows, Kommissare, Klimakatastrophenprophezeiungen usw. Aber an diesem Abend blieb ich bei einem neuen deutschen Film hängen: Niemand ist bei den Kälbern. Anders als die üblichen deutschen Filmproduktionen. Beeindruckend die Hauptfigur, ihre Erlebnisse, die Kulisse. Verstörend, faszinierend, brutal, intim, gleichwohl unglaubwürdig und doch fesselnd. Kein Happyend. Der Schluss lässt einen ratlos zurück.  Ich erspare mir hier den Inhalt. Er ist hier gut beschrieben: https://de.wikipedia.org/wiki/Niemand_ist_bei_den_K%C3%A4lbern_(Film)

Der Film machte mich neugierig auf die Romanvorlage. Ich bestellte das Buch, fing an zu lesen und verschlang es in kürzester Zeit. Irritierend: Die Autorin erzählt in der Ichform. Das meiste, das auf den Buchseiten steht,  sind ihre inneren Gedanken, wenn nicht Selbstgespräche. Und sie beschriebt mit einer akribischen Genauigkeit: Jeder Fensterritze, die Fliegen um die Milchkanne, die Ohrwürmer, die ihr nicht aus dem Kopf gehen. Eigentlich ist so ein Buch nicht zu verfilmen. Und tatsächlich gibt der Film nicht einen Bruchteil jener Gedanken wieder, welche der Heldin Christin durch den Kopf gehen. (Held oder Heldin: Die Hauptfigur eines Romans, mit welcher der Leser sich identifiziert, wird gemeinhin als Held oder Heldin bezeichnet, auch wenn die Figur nichts Heldenhaftes auszeichnet. Darum spreche in Folgenden von der Heldin; Christin, wie sie im Buch und auch im Film heißt.) Erst mit dem Buch zur Hand wird der Film überhaupt erst verständlich. Für den Konsumenten so wie ich: Film, dann Buch und wieder Film. Damit habe ich die Botschaft von Buch und Film verstanden. Ein trauriger, demütigender Inhalt. Eigentlich möchte man als Leser oder Betrachter eingreifen und Christin erlösen. Denn es gibt keinen Märchenprinzen. Ihre kurze Affäre Klaus entpuppt sich als ein gemeiner Sadist. Bei ersten Mal verbrennt er sie nach einem brutal vollzogenen Akt mit einer glühenden Zigarette im Schambereich. Beim zweiten Mal ohrfeigt er die Gefesselte  beim Geschlechtsverkehr. Dabei ist der Bursche verheiratet; hat Frau und Kind bei sich zuhause in Hamburg. Bei seiner Frau könnte er sich kaum diese sadistischen Ausraster erlauben. Aber die größte Demütigung erfährt Christin, als Ihr Schwarm von seiner geplanten Urlaubsreise mit Familie erzählt. Für Christin eine unerfüllbare Sehnsucht.

Die Illusion, die der Film aufbaut: Die Filmfigur der Christin ist zu schön und gepflegt um wahr zu sein. So läuft niemand, der auf einen Milchviehbetrieb seine Arbeit verrichtet herum: Zarte, gepflegte Hände, lackierte Nägel, perfektes Make-Up, gezupfte Augenrauen,  und gepflegte Frisur.  Keine Schwielen an den Händen. Ebenso Ihr Freund Jan im Film: Die trainierte Figur eines Athleten. Ein Traummann. Aber nicht für Christin im Film. Gleiches gilt umgekehrt.  

Erst im Buch, nicht so sehr im Film,  offenbart sich ein selbstquälerischer, beinahe masochistischer Zug im Wesen der Heldin: Sie beobachtet, wie sich eine Mücke auf ihren Arm setzt, sticht, das Blut saugt und davon schwirrt. Übrig bleibt ein schmerzhaft juckender Stich. Die Brandverletzung in Schritt, den ihr der sadistische Klaus mit seiner Zigarette zugefügt hat, pflegt sie beinahe stolz wie ein Schmuckstück. „Manche Männer stehen auf so was“.  Die Fesseln, mit der er ihre Handgelenke fixiert hat, brennt er mit dem Feuerzeug weg nachdem er sie beim Akt wieder brutal genommen hat und dabei auch noch ohrfeigte.  Selbst die schmerzhaften Prügel, die ihr der gehörnte Jan verabreicht, scheint sie ohne Groll zu ertragen.          

Sowohl die filmische Handlung als auch der Buchinhalt halten dem Wirklichkeitscheck nicht stand: Keine Frau würde sich so wie Christin verdingen: Ohne Arbeitsvertrag, Sozialversicherung usw. Jede vernünftige Frau hätte den prügelnden Jan angezeigt. Keine Frau würde sich bei der Arbeit auf dem Bauernhof so kleiden.

An manchen Stellen weichen Film und Buch voneinander ab: Die Szene mit der Besamung der Kuh kommt im Film nicht vor. Auch das „zweite Mal“ mit Klaus wird völlig anders und verfremdet dargestellt. Logisch: Brutaler, gewaltsamer Sex darf hierzulande nicht auf die Filmleinwand.

Wie gesagt, der Film kann die Abfolge der Gedanken von Christin nicht darstellen. Er versucht,  es mit einer extremen Nähe zur Darstellerin wettzumachen. Das Gesicht von Christin in Nahaufnahme hinter dem Steuer, Christin beim Trinken, Christin beim Pinkeln, Christin auf der Toilette, Christin, wie sie sich die Fußnägel lackiert. Die angedeutete Masturbationsszene wiederum ist frei erfunden. Trotz allem: An keiner Stelle wirkt der Film obszön.

Männer kommen im Buch noch schlechter weg als im Film: Die Episode im Rückblick, wo sie ein Betrunkener zum Oralverkehr zwingt und sie beinahe erstickt. Der kotzende, ständig betrunkene und pöbelnde Vater. Die übrigen Figuren: Unsympathisch. Sie greifen zur Zigarette oder zur Flasche und sind allesamt Versager.  

Klar, dass der Film von der Kritik begeistert aufgenommen wurde: Endlich würde einmal gezeigt, wie es im ländlichen Osten der Republik zugeht. Dabei hat der Film die gleiche Realitätsnähe oder Ferne wie ein x-beliebiger Kommissarfilm. Eben Kunstfiguren.

Man sollte den Film einfach als Bebilderung zum Buch nehmen. So, wie früher in Kinderbüchern etwa alle dreißig Seiten eine Szene illustriert wurde. Aber die Abfolge der Illustrationen ersetzt nicht das Buch. Meine Empfehlung: Erst den Film, dann das Buch. Für den, der zuerst das Buch liest, ist der Film möglicherweise, wo so oft bei Literaturverfilmungen, eine Enttäuschung.

Es bleibt zurück die Bewunderung für die genaue Beobachtungsgabe der Autorin. Sie muss eine Spanne ihres Lebens in dieser ländlichen Umgebung verbracht haben, sonst hätte sie nicht diese detailtreuen Schilderungen zu Papier bringen können. Aber wieviel Christin steckt in der Autorin? Was ist autobiographisch, was ist Phantasie?

 



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