5. April 2011: Ja, wo bleibt er denn, der GAU?

Liebe Freunde,

der 1. April  ist vorbei und daher eigentlich kein geeigneter Zeitpunkt mehr für Aprilscherze. Die Geschehnisse in Japan liegen gerade mal drei Wochen zurück.  Die  schaurigen, beklemmenden Bilder fortgespülter Städte mit Häusern, Autos und Schiffen machten uns betroffen:  Bei der Vorstellung, daß gerade in diesen Momenten tausende Menschen inmitten jener  Trümmer  zu Tode kamen. Und wie die Überlebenden, die Hab und Gut und ihre Angehörigen in den Schlammfluten verloren hatten, dann ums nackte Überleben kämpfen mussten.

Indessen: Das Erdbeben hatte Fernwirkungen bis hin zu uns: Es gab hier zwar keine Verwüstungen und keine Toten, indessen sind bei vielen einige Tassen aus dem Schrank gefallen und wurden bisher nicht wieder am alten Platz eingeräumt. Nachdem klar wurde, daß die Flutwelle die Notkühlung  der Reaktoren in Fukushima lahm gelegt hatte, wurden gleich weitere Atomkraftwerke abgeschaltet: Nicht im Tsunamigefährdeten Ostasien, nicht im von Erdbeben bedrohten Kalifornien, nein, sondern hier bei uns.  Fast hatte man den Eindruck, Flutwelle und Plattentektonik hätten hier in Brunsbüttel und Neckarwestheim gewütet und nicht im fernen Osten…

Ich habe die Zeitungen mit den Schlagzeilen jener Tage aufgehoben.  Am Montag: Größter anzunehmender Unfall, kurz: GAU. Also schlimmste, was man sich vorstellen kann. Aber am Dienstag lernte ich dann, daß es noch etwas Größeres gibt, nämlich  den Super-GAU, gegen den die todgeweihten Arbeiter in Fukushima verzweifelt ankämpfen würden. Bis dahin dachte ich, daß ein Superlativ nicht weiter steigerungsfähig sei. Nannte sich doch selbst Ali einst den Größten und nicht den Supergrößten.

Die Lufthansa strich alle Flüge nach Tokio; die deutsche Botschaft wurde in das südlichere Osaka evakuiert. Das Auswärtige Amt gab Reisewarnungen und deutsche Häfen rüsteten sich für Strahlenschutz. Gespannt lauschten wir dem fernöstlichen Wetterbericht jener Tage: Wann würde der Wind eine radioaktive Wolke nach Tokio treiben und die Stadt verseuchen?  Und tatsächlich: Nacheinander flogen drei Reaktorgebäude in die Luft. Diese Bilder flackerten immer und immer wieder über den Bildschirm, so wie einst der Einschlag der Flugzeuge in die Twin-Towers am 11. September. Und wohlmeinende Umweltschützer gaben von hier aus den Japanern den guten Rat, den Evakuierungsradius über die 20km hinaus doch beträchtlich auszuweiten.

Nur: wo blieben dann die Bilder von Opfern der Atomkatastrophe? Nicht mal die Strahlenkranken mit ihren glatzköpfigen Schädeln, die uns von Tschernobyl noch so gut in Erinnerung waren, wurden uns von den Medien präsentiert. Stattdessen die alarmierende Meldung: Der Spinat rund um Fukushima hat erhöhte Jod-Werte. Ach so, aber den wollte ich eh nicht essen und die Japaner dort vermutlich auch nicht. Dann die Überraschung: In den Kühlsystemen der Reaktoren ist radioaktives Wasser! Tatsächlich, daß hätte ich bei einem defekten Atomreaktor am wenigsten vermutet.   Und dann, oh Wunder, stellt man rund   ums Kraftwerk erhöhte Strahlenbelastung fest! Wir haben es ja gleich gewusst: Da stimmt etwas nicht. Mal 10fach, mal 10 Millionen, dann wieder tausendfach, so wie in der Zahlenlotterie überschlagen sich die „Messwerte“ nach Belieben.

Nur gut für unsere Medien, daß es inzwischen auch noch andere Schlagzeilen gab: Der Krieg in Libyen geht richtig los und Knut  stirbt. Gemobbt von einer Übermacht weiblicher Artgenossen sucht er den Freitod. So zumindest die erste plausible Erklärung. Dieses tragische Ereignis, ganz in der Logik  des Gender Mainstream, lenkt uns davon ab, daß rund um das Kraftwerk dort drüben noch nichts wirklich Aufregendes passiert. Ab und zu ein paar Bilder von Löschaktivitäten, mal mit Hubschrauber, mal mit Feuerwehr. Wo bleibt er denn, unser Super-GAU? Wir werden vertröstet: Der kommt bestimmt, denn die Kamikaze-Arbeiter dort führen ja einen Verzweiflungskampf. Inzwischen gibt es allerdings für Tokio Entwarnung: Auch das Trinkwasser dort ist wieder für die Zubereitung von Baby-Nahrung geeignet. Nun  hatte sich aber durch das Löschen mit Meerwasser eine Salzkruste um die Brennstäbe gelegt.  Hätte mich nicht gewundert, wenn dann irgendeine Behörde vor dem Verzehr dieses Salzes gewarnt hätte. Später lief zwei Arbeitern  auch noch radioaktives Wasser in die Stiefel.  Und dann vor einigen Tagen endlich: In Kraftwerksnähe wurde das hochgiftige Plutonium gefunden! Diese Nachricht ging für einige Tage stündlich über die Sender. Stimmt, Plutonium ist hochgiftig, wenn man es aufisst oder einatmet. Auf der Haut ist es völlig ungefährlich. Dieser Hinweis unterbleibt. Und da Plutonium fast dreimal so schwer ist wie Eisen gestaltet sich das Inhalieren etwas schwierig. Und zum Schluss war dann doch nicht klar, ob das Plutonium nicht doch etwa von Kernwaffentests der Fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts stammt. Da wurde es damals großräumig um den Erdball verteilt und auch in Fukushima lag der Wert etwa auf dem Niveau, wie er inzwischen überall auf der Welt gemessen wird.  Das war dann unseren Medien aber keine Schlagzeile mehr wert. Statt dessen vor drei Tagen: In einem Reaktorgebäude klafft ein 20 Zentmeter langer Riss, durch den pro Sekunde etwas zwei Liter Wasser ins Meer fließen! Das ist enorm, entspricht es doch etwa der Fördermenge einer flott ausgegossenen Gießkanne. Und jetzt die kolportierte Angst, der ganze Pazifik könne verseucht werden! Einige Tausend Tonnen werden zu Millionen Litern umgerechnet, das klingt gewaltiger.

Ich will das Ganze nicht weiter aufzählen, es ist einfach absurd. Ich bin weit davon entfernt, das  zu verharmlosen,  dazu ist es zu ernst und es werden  auch  Menschen erkranken. Aber in Relation zu der Super-Katastrophe, die Japan Tage zuvor heimgesucht hat, ist ein Vergleich abwegig. Zur selben Zeit dieser Berichterstattung starben in den Bürgerkriegen in Libyen und an der Elfenbeinküste Hunderte Menschen; wurden Tausende verletzt. Das wird in den Nachrichten gerade mal beiläufig erwähnt.  Der größte GAU für unsere Medien ist, daß der Super-GAU eben nicht stattgefunden hat und auch nicht stattfinden wird. Auf der internationalen INES-Skala rangieren die Ereignisse in Japan immer noch auf Stufe 5 von 7 möglichen.  Statt dessen nun vor Ort jetzt ganz einfach  Sicherungs- und Reparaturarbeiten. Und die Ausbreitung der Radioaktivität wird ebenso eingedämmt wie einst in Tschernobyl: Versiegelung der Reaktoren.  Erinnern wir uns: In Tschernobyl geriet die atomare Kettenreaktion außer Kontrolle; der ganze Reaktor flog in einer Dampfexplosion in die Luft und brannte anschließend tagelang weiter.  In der Ukraine starben dann etwa 40 Arbeiter durch direkte Strahleneinwirkungen. Sie hatten ohne Schutz glühenden Reaktorschrott vom Dach des Gebäudes geschaufelt. Und in Folge erkrankten über 6000 Kinder an Schilddrüsenkrebs, davon sind 15 bis heute gestorben.  Es  gab dort  damals keine Jodtabletten. Von diesem Szenario ist  Japan und sind auch wir Gottseidank weit entfernt. Was seinerzeit passiert ist war schlimm und hat sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Die über Hunderttausend Toten der Flutkatastrophe in Bangladesch, die sich fünf Jahre später ereignete, sind hingegen längst vergessen.

Warum saugen wir  dennoch so begierig jede noch so kleinste Nachricht aus Fukushima als apokalyptische Drohung auf? Warum lässt uns das Schicksal der zu gleicher Zeit wirklich von Katastrohen, Unglücken, Verbrechen, Kriegen heimgesuchten vergleichsweise unberührt?  Vielleicht weil Erdbeben; Tsunamis, Seuchen, Bürgerkrieg hier für uns  (noch) keine Bedrohung sind? Die Kernkraftwerke hier in Deutschland haben bis jetzt  keinen Toten auf den Gewissen. Aber ich erinnere mich noch an das ICE-Unglück in Enschede mit über hundert Opfern.  Niemand verstieg sich damals zu der Aussage, die Technik des Eisenbahnfahrens sei „nicht beherrschbar“. Und ich wohne in der Einflugschneise eines Großflughafens. Statistisch stürzt irgendwo auf der Welt etwa alle 5 bis 10 Jahre ein Flieger  bei Start oder Landung auf Wohngebiete. Aber hübsch lächelnde  Aufkleber mit der Inschrift:  Flughäfen: Nein Danke! Habe ich noch nicht gesehen.  Und im Schnitt hat jeder, der als Bergmann unter Tage arbeitet, auch heute immer noch eine um sieben Jahre verkürzte Lebenserwartung. Trotzdem rühren Politiker aller Parteien immer noch kräftig die Trommel gegen die vorzeitige Stilllegung unserer  letzten Bergwerke.

Haben sich erst mal dunkle Gefühle, Furcht und Angst in unseren Köpfen eingenistet,  zieht die Vernunft den Kürzeren. Und die Panik ist nicht mehr weit. Ein deutsches Phänomen: The German Angst  hat als Vokabel auch im angelsächsischen Sprachraum Eingang gefunden. So wie einst Le Waldsterben bei unseren Nachbarn zum geflügelten Wort wurde (Was ist eigentlich daraus geworden?).

Dabei  gab es mal Anlass genug, uns vor dem Atom zu fürchten: Als Hunderte von Nuklearsprengköpfen auf Deutschland niedergehen sollten. Für den Fall, daß aus dem kalten Krieg ein heißer werden würde. Heute wissen wir, wie die Pläne des Warschauer Paktes damals aussahen: Hamburg sollte durch eine Wasserstoffbombe ausgelöscht werden, allein für die Norddeutsche Tiefebene waren über 70 Atomwaffen vorgesehen. Uns war gar nicht bewusst, wie oft und wie nahe wir damals am Abgrund standen wegen irgendeines Fehlalarms. Erst vor einigen Tagen lief wieder eine Dokumentation auf ZDF-History über eine Situation 1983, als die russischen Jagdbomber in der damaligen DDR mit scharfen Atombomben schon startbereit mit laufenden Turbinen auf der Rollbahn waren und das ganze erst in letzter Sekunde abgeblasen wurde. Ich habe  nicht verstanden, weshalb seinerzeit die Friedensbewegten, häufig personenidentisch mit den heutigen Atomkraftgegnern, besorgt waren wegen der amerikanischen Pershings, aber nicht wegen der russischen SS20.

Ein positives: Wer sich über Kernkraft informieren wollte, hatte in den letzten Wochen ausgiebig Gelegenheit dazu.  In jeder Zeitung wurde erläutert, wie ein Siedewasserreaktor, ein Druckwasserreaktor, ein russischer MRK  usw. funktioniert. Was es mit den verschiedenen Messarten von Strahlendosis, Halbwertszeiten etc. auf sich hat.  Und erstaunlich  aktuell sind die Wiki-Einträge über Fukushima.  Ich selbst habe in letzter Zeit vorwiegend die Online-Dienste von CCN und BBC genutzt um mich ausgewogen über das Weltgeschehen zu informieren.

Was bleibt: Wir alle werden ein Stück ärmer. Ich meine nicht unsere Strompreise, die jetzt schon die höchsten in Europa sind. Ich kann meine Wäsche auch auf der Leine trocknen. Und mein Kaffeewasser demnächst auf einem mit Holz befeuerten Herd kochen. Schlimmer trifft es das produzierende Gewerbe, das ins benachbarte Ausland abwandert.  Aber am schwersten wiegt der Verlust von Hirn und Verstand. Zweihundert Jahre nach der Epoche von Emanzipation und Aufklärung werden wir uns wieder an Dogmen und Denkverbote gewöhnen müssen. Denn wir können mit einem engagierten Grünen über Kernkraft genauso gut diskutieren wir mit einem Mullah über den Katholizismus. Es ist einfach eine Glaubenssache, eine „Herzensangelegenheit“, eine tiefe Überzeugung, eine Weltanschauung. Und Grün wollen wir ja bald alle sein.  Und obendrein fühlen wir uns auch noch wohl dabei, denn wir stehen mit unseren Überzeugungen ja auf der Seite der Guten. Uns gegenüber steht die böse Lobby. Und wir werden jetzt alles „ergebnisoffen“ prüfen.

Wenn uns schon Fukushima nix Neues mehr bietet, freuen wir uns jetzt auf die Arbeitsergebnisse der von Angela einberufenen „Ethik-Kommission“!  Auf geht’s!

Herzliche Grüße

Euer Bernd



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