Laufend Saufen und saufend Laufen

Geht das? Und ob! Sehr gut sogar, alle Jahre wieder, und das nun schon zum dreißigsten Mal. Ein Marathon, nicht nur für Muskeln, Herz und Lunge, sondern auch für Leber und Niere, ausgetragen im Herzen der teuersten Weinbaugebiete der Welt. Der Marathon du Médoc.  Die Herausforderung besteht nämlich nicht nur aus der klassischen Marathonstrecke von über 42 Kilometern,es gilt auch, über zwanzig Weinproben auf der Strecke unterwegs mitzunehmen. Keine billige Pennerplörre, nein, es sind die besten französischen Weingüter, die adeligen Châteaux des Médoc wie etwa die der Barone von Rothschild, wo der aufs feinste gekelterte Rebensaft von  den Teilnehmern verkostet werden muß.

Zugegeben: Saufen ist eigentlich das unpassende, vulgäre Vokabular. Aber auf Laufen reimt sich nun mal das Saufen und nicht etwa das dezente Trinken. J‘ai soif, ich habe Durst. So sagt man in Frankreich. Klingt lautmalerisch irgendwie ähnlich.

Aber das ist noch nicht alles: Die Strecke muß in der vollen Montur einer phantasievollen Kostümierung bewältigt werden, vom Start weg bis ins Ziel.  Einfacher Läuferdress reicht nicht und führt zur Disqualifikation.

Wie kommt man eigentlich auf so eine verrückte Idee? Machen wir eine kurze Pause und blättern wir zurück im Geschichtsbuch: Das Ganze hat eine lange Tradition. Schon der erste Marathonläufer der Geschichte, der Grieche Pheidippides, lief vor zweieinhalbtausend Jahren die Strecke  in voller Rüstung und somit kostümiert von Marathon nach Athen, um seinen Landsleuten die Kunde vom Sieg der Griechen  über die Truppen  des Perserkönigs Dareios zu überbringen. Bekanntlich bekam ihm das nicht gut: Im Ziel angekommen brach er tot zusammen. Vermutlich  hatte er unterwegs zu wenig getrunken. Er starb also einfach an Dehydrierung. Das soll uns heute nicht passieren.

Die hübsche Geschichte stand früher mal im Lesebuch. Die Adresse des Olympiastadions in München trägt seinen Namen. Leider ist Spiridons damaliges Outfit nicht photographisch  überliefert. Aber er wird wohl in seiner üblichen Arbeitskluft, nämlich der eines griechischen Hirten, gelaufen sein.

Szenenwechsel in die Gegenwart: Es ist Samstag, der 13. September, ein warmer Spätsommertag,  kurz nach neun Uhr morgens. Wir nehmen Aufstellung in der breiten Hauptstraße des Ortes Pauillac. Über hunderte von Metern sammeln sich die Läufer zu Gruppen, schwatzend, schnatternd, knipsend.  Viele starten für Firmen oder Vereine und tragen dann jeweils die gleiche Kostümierung.  Auch wir sind uniformiert. Wir, das ist eine in Felle gehüllte  Horde von  Neandertalern aus Ratingen. Eine echte Sippe mit etwa dreißig Urweltmonstern. Die Jüngste ist noch ein echtes Küken mit gerade mal 24 Lenzen, unser Ältester hat schon 75 Lebensjahre auf die Buckel.  Die wilden Kerle keulenschwingend, die wüsten Weiber behängt mit  Schmuck aus abgenagten Knochen. Alles Plastik, sieht aber verdammt echt aus. Für manche ist es der erste Marathon ihres Lebens.  Um uns herum eine lebendige Phantasiewelt: Gackernde Gänse, drapierte Flaschen, ausgestopfte Babys mit Schnuller, Clowns, Transvestiten, Chinesen. Alles nur Verkleidung. Einzige Ausnahme: Ein paar zierliche Japanerinnen. Die brauchen sich nicht zu verkleiden, die tragen einfach ihren  traditionellen Kimono. Und ein paar waschechte Dirndln aus Bayern wären mit ihrer Tracht ebenso gut auf dem Oktoberfest aufgehoben. Besonders beliebt als Kostümierung: Die gallischen Nationalhelden Asterix und Obelix.  Eine schwierige Verkleidung. Denn Kenner der illustrierten Literatur der begnadeten Autoren Uderzo und Goscinny wissen es: Obelix musste nicht nur immer seinen Hund mit herumschleppen. Er hatte auch eine gewisse Veranlagung zur Adipositas, was indessen vom selbigen heftig abgestritten wurde: „Ich bin nicht dick!“ Da indessen Langstreckenläufer nur in seltenen Fällen über eine wohlgeformte,  natürlich gewachsene echte Plauze verfügen, muß noch mit Schaumstoff oder Pappmaschee nachgeholfen werden. Alle Achtung, und das über zweiundvierzig Kilometer unter südlicher Sonne!  Wenn das mal hält!

Déjà-vu: Vor genau fünf Jahren, beim 25. Medoc-Marathon, standen wir schon einmal hier am Start. Nicht als Urzeitlümmel, sondern als Spielkarten verkleidet. Casino, so hieß das Thema. Ich lief als Kreuz-Zehn, was immer noch besser ist als Pik-Sieben.  Zum  Ass hatte es nicht gereicht und zum König wurde ich auch nicht gekrönt. Die damalige Laufstrecke war genau umgekehrt abgesteckt: Statt nach Norden liefen wir nach Süden; drehten eine große Schleife in den Weinbergen, kamen nach der Halbmarathondistanz wieder in Pauillac vorbei, drehten nach Norden um dann wieder nach einer weiteren Kehre im Ziel anzukommen.  Damals reifte der Entschluss: Wir kommen wieder!

Jetzt ist es soweit. Alle fiebern auf den Startschuss.  Die Stimmung am Start ist prima. Dafür sorgen schon die heißen Rhythmen der Beschallung und die hübschen Sambatänzerinnen, die auf den Podesten ihr bestes geben.  Konfettikanonen lassen es rieseln. Dann endlich: Ein Knall; es geht los! Die Läuferschar setzt sich in Bewegung. Läufer?  Da sind ganze von Hand gezogene  Wagenkolonnen dabei. Ein römischer Streitwagen, vermutlich noch eine Requisite aus Ben Hur. Eine Dampfwalze aus Pappe, ein gezogener Pfauenthron, Feuerwehrwagen und noch viele andere Motive. Gleich mit dem Start setzt ein lautstarkes Feuerwerk ein. Es knallt und rumst.  Schade, daß an dem sonnigen Taghimmel die ganze Pracht der Pyrotechnik nicht so richtig zu Geltung kommt.

Nach ein paar Augenblicken ist die Startlinie überquert, weiter geht es auf der flachen Straße längs des breiten Flussbettes der Gironde. Vom Wasser kommt ein frischer Wind. Der hilft, die erste Durststrecke zu überstehen: Endlich, bei Kilometer drei gibt es Frühstück. Ich bin noch nüchtern in jeder Beziehung und so gönne ich mir zwei Croissants, eine Rosinenschnecke und einen Orangensaft. Lecker! Lebensart haben sie, die Franzosen, das muß man ihnen lassen. Solchermaßen gestärkt  fallen die nächsten zwei Kilometer zur ersten Weinprobe leicht. Château Montrose, da gibt es den ersten Rotwein des Tages.  Ein Grand Cru, ein wirklich edler Tropfen. Dabei soll es nicht bleiben, es kommt noch besser. Bei Kilometer sieben gibt es musikalische Untermalung zur Verkostung der Gewächse von Château Picard und Phelan Segur.  Dazu Früchtekuchen, eine leckere  lokale Spezialität zur Auffüllung der Energiespeicher. Die vierte Wein-Station lasse ich einfach ausfallen.  Man will ja noch irgendwie ins Ziel kommen. An den Straßenrändern jubeln uns die Zuschauer zu. Allez, Allez, fait vite! Kinder halten uns die Hände zum Abklatschen hin. Einer will mir meine Keule abluchsen: Donnez-moi! Ich presse gerade noch ein entschiedenes Non heraus. Nein, ich will mit vollständigem Outfit ins Ziel kommen. Auch mit den Wadenwickeln aus Lammfell. Die gehören zum Neandertaler. Schließlich war damals Eiszeit.  Jetzt ist von Eiszeit keine Spur. Die Sonne steigt höher, es wird wärmer, es staubt auf den  kiesigen Wegen. Bergauf, bergab. Die Schlösser liegen ja zumeist auf einer Anhöhe inmitten der sie umgebenden Weinberge.

Längst hat sich die Läuferschar auf der Strecke auseinandergezogen. Auch ich keuche nur noch hinter meiner Sippe her. Aber auch andere kämpfen: Die Schminke schmilzt unter dem Schweiß, manches Outfit bleibt auf der Strecke, Masken, Federboas. Da, endlich bei Château Puy Lacoste ist die Hälfte der Strecke geschafft. Ein Blick auf die Uhr: Das großzügig bemessene Zeitlimit von sechseinhalb Stunden werde ich wohl schaffen.  Zeit genug um wieder zu genießen. Dazu gehört auch der phantastische Anblick der oftmals romantisch verspielten Architektur der Châteaux, die Tanzgruppen, die Kapellen, die Parkanlagen und natürlich der Wein und die Leckereien. Ein Fest für alle Sinne, wären da nicht die Beine, die langsam müde werden. Allez, Bernd, fait vite!   Jeder Läufer trägt  seinen Namen sichtbar vor sich auf der Startnummer. Durchhalten, ich kann meine Fans nicht enttäuschen. Kleine Ortschaften wechseln sich ab mit der Weite der Weinfelder. Nur noch wenige Kilometer, dann kommt die Gourmetmeile kurz vor dem Ziel. Das kennen wir von früher: Austern, Käse, Entrecôte, Speiseeis, Früchte, Champagner. Ich bin zu langsam, der Käse ist schon weggefuttert und Austern mag ich eh nicht. Aber der Schampus soll die letzten Lebensgeister zum Endspurt auffrischen.

Die letzten Kilometer führen zurück nach Pauillac. Da endlich, die letzte Straßenbiegung mit dem Zieleinlauf. Jetzt nicht hängen lassen. Beifall, die letzten Anfeuerungsrufe von links und rechts der Gasse.  Die Uhr steht auf 6 Stunden und elf Minuten, als ich über die Ziellinie komme. Geschafft!     Auch die andern Neandertaler sind im Ziel angekommen, ebenso wie die übrigen kostümierten Akteure.  Im großen Zelt treffen wir alle wieder. Und da endlich gibt es was Anständiges gegen den Durst: Richtiges Bier. Prost!

Betrunkene? Fehlanzeige! Alle Finisher sind guter Dinge, aber niemand ist beschwipst, trotz der unzähligen Weinproben. Die simple Erklärung: Alkohol, also Bioethanol,  wie man heute sagt, ist ganz einfach Treibstoff. Und der wird während der körperlichen Anstrengung eines  Marathons vom Organismus sofort in Energie für die Muskulatur umgesetzt. Für die grauen Zellen ist damit  nix mehr übrig; die bleiben stocknüchtern.   – Hand aufs Herz: In fünf Jahren sind wir wieder dabei, à votre santé!

Euer Bernd

PS: Das brachte ich nun vor fünf Jahren, im Jahr 2014, zu Papier. Eine Herzoperation machte  mir einen Strich durch die Rechnung. Bleibt die Hoffnung auf 2024.