Artikel in der FAS vom 26.2.1012: Der Sturz der Babyboomer – meine Sicht
Veröffentlicht: 25. April 2012 Abgelegt unter: Leserbriefe an die FAZ | Tags: Babyboomer, FAS, FAZ, Generationenschelte, Volker Bouffier Hinterlasse einen KommentarDer Hessische Ministerpräsident schrieb in der FAS vom 26.2. als Replik zu einem Beitrages von Frank Schirrmacher
… Was Frank Schirrmacher an Thesen zur „Babyboomer-Generation“ der Politiker aufstellt, ist noch nicht einmal gewagt. Es ist schlichtweg falsch. Gestern noch wird über „die Berufspolitiker“ geschimpft, weil sie in ihrem Leben nichts anderes zustande gebracht hätten, als in Länderparlamenten oder im Bundestag ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Für andere berufliche Verwendungen seien sie nicht zu gebrauchen. Heute werden sie dafür gescholten, dass sie nach vielen erfolgreichen Jahren in höchsten Ämtern neue berufliche Herausforderungen suchen. Eine „erschöpfte Generation“ in der Funktion des Vorstandsvorsitzenden eines großen internationalen Dienstleistungskonzerns (Roland Koch), in der Funktion eines Bundesverfassungsrichters (Peter Müller), in der Funktion des Partners in einer renommierten Rechtsanwaltskanzlei (Friedrich Merz) oder in der Funktion des Fraktionsvorsitzenden im Bundestag (Frank-Walter Steinmeier)? Die Babyboomer als „ökonomische und soziale Last dieser Gesellschaft“ – diese These zu untermauern bedarf einer hohen Kreativität.
Der Kernvorwurf Schirrmachers ist aber die vermeintliche Ideenarmut der Babyboomer- Generation, die nur Leere hinterlassen habe. Das politische Projekt dieser Generation liege in Trümmern. Das provoziert geradezu eine Replik.
In meiner politischen Laufbahn habe ich naturgemäß sehr eng mit Frauen und Männern dieser Generation zusammengearbeitet. Mein Eindruck ist ein völlig anderer: Diese Generation war gerade immer besonders engagiert, motiviert und begeisterungsfähig. Ich erinnere an die Schulkämpfe der siebziger Jahre – massenhaft sind junge Menschen damals in die Parteien eingetreten, haben ihre kommunalpolitische Laufbahn gestartet oder sich in Initiativen zusammengeschlossen. Wir von der Jungen Union haben für die Wiedervereinigung gekämpft, als andere sich mit Mauer und Stacheldraht abgefunden hatten, haben zum 17. Juni demonstrativ Mauern in Innenstädten niedergerissen oder Zonengrenzseminare veranstaltet. Ich will das nicht politisch einseitig betrachten, denn viele Teile dieser Generation haben sich bekannt: Man denke an die Umwelt- und Friedensbewegung, an die großen Demonstrationen damals im Bonner Hofgarten – gegen, aber auch für die Nachrüstungspolitik der damaligen Bundesregierungen. Diese Generation war und ist keine Wohlstandsgeneration, die sich wohlstandssatt in ein Konsumnest verkrochen hat, sondern sie hat sich bekannt und engagiert! Sie hat immer einen Gestaltungswillen gehabt. Der Trendforscher Matthias Horx hat den Charakter der „Babyboomer“ vor Jahren so beschrieben: „Die Devise ,so schnell wie möglich in Pension‘ weicht der Parole ,So lange wie möglich Herausforderungen!‘“ Für einen Forscher, der Trends und Ideen aufstöbert, ein bemerkenswerter Unterschied zum Herausgeber der FAZ.
Ja, es ist eine Generation, die läuft, die rennt und aufreibend agiert, vielleicht auch mal gegen die eine oder andere Wand gelaufen ist, die sich auch im politischen Geschäft mal Blessuren geholt hat. Aber kopf- und ideenlos? Man muss nicht so weit gehen wie Altkanzler Schmidt und meinen, wer in der Politik Visionen habe, solle besser zum Arzt gehen. Aber es ist falsch und unfair, der hier gescholtenen Generation geistige Armut vorzuwerfen und sie auf das Markt- und Konsumleben zu reduzieren. Richtig ist allerdings, dass eine Idee, ein politisches Konzept auch Mehrheiten in Parlamenten braucht. Demokratie ist anstrengend. Wenn die „Babyboomer“ sich hier mehr oder weniger schnell zu pragmatischen Wegen entschieden haben und entscheiden, dann ist das gut für die Ergebnisse, die eine solche Politik für die Menschen zum Ziele hat.
Schirrmachers Schelte, die sich ja schön logisch auf dem Papier liest – quasi eine philosophische Streitschrift in sechs Zeitungsspalten hat mit der politischen Wirklichkeit wenig zu tun. Wir brauchen keine Klassifizierungen, keine Generationenkonflikte oder Frust oder Jammerdebatten. Mehr Ermutigung und Miteinander sind gefragt. Das sichert die Zukunftsfähigkeit und unsere Demokratie.
Der Autor ist Hessischer Ministerpräsident (Jahrgang 1951)
Meine Antwort als Leserbrief vom 27.2. an die FAS:
Der Lobgesang von Volker Bouffier auf die Generation der Babyboomer sollte nicht unwidersprochen bleiben. Zwar kann man darüber streiten, ob Volker Merz, Roland Koch oder Christian Wulff nun typische Vertreter dieser Gattung sind. Aber jede Politikergeneration muß sich den direkten Vergleich mit ihren Vorgängern gefallen lassen. Und da sieht die Bilanz alles andere als rosig aus. Erinnern wir uns: Unsere Eltern und Großeltern, die die Schrecken des Krieges überlebten, haben hierzulande nach 1945 innerhalb eines Jahrzehnts die Trümmer beiseite geräumt, die zerbombten Städte wieder aufgebaut und über zehn Millionen Vertriebenen in dem zuvor verwüsteten Restdeutschland eine neuen Heimat gegeben. Zusätzlich zur Masse der Kriegsheimkehrer wurde auch das Millionenheer der Kriegsversehrten, denen Gliedmaßen oder Augenlicht fehlten, wieder in Lohn und Brot gebracht. Ende der fünfziger Jahre waren die letzten Bombenschäden beseitigt; im damaligen Wirtschaftswunderland herrschte Vollbeschäftigung.
Und heute? Seit Jahrzehnten leben wir nun schon mit der „Sockelarbeitslosigkeit“ von einigen Millionen . Die Integration der Zuwanderer aus fremden Kulturkreisen ist in weiten Teilen gescheitert; das Entstehen von „Parallelwelten“ in diesem Land wurde nicht verhindert. Unser Bildungssystem ist heute genau so marode wie der bauliche Zustand unserer Schulen und Universitäten. Am Geld kann es eigentlich nicht liegen: Musste in den fünfziger Jahren ein Bürger noch das 20-fache des Durchschnittseinkommens verdienen, um in den zweifelhaften Genuss der höchsten Steuerprogression zu gelangen, so reicht dazu heute bereits das 1,4-fache. Die Umsatzsteuer im Wirtschaftswunderland lag bei 4% und wurde später durch eine 10% Mehrwertsteuer abgelöst. Heute zahlen wir mit 19% fast das doppelte. Und weil das Geld trotzdem nicht reicht, haben unsere politisch verantwortlich handelnden inzwischen astronomische Schuldenberge angehäuft. Wo bleibt da der von Volker Bouffier reklamierte „Gestaltungswille“? Wenn es ihn gab, dann war er offenbar fehlgeleitet.
Die Parlamente sind zur Arena politischer Schaukämpfe verkommen. Entgegen dem Willen der Väter unseres Grundgesetzes ist der Abgeordnete nicht mehr seinen Gewissen verantwortlich, sondern hat sich dem Fraktionszwang unterzuordnen. Die eigentliche Gesetzgebungsarbeit wird nicht im Parlament, sondern in den Ausschüssen unter Ausschluss der Öffentlichkeit geleistet. Kein Wunder, wenn sich immer mehr Bürger angewidert abwenden und sich der inzwischen größten Partei, nämlich den Nichtwählern, zuwenden. Und kommt mal ein kritischer Autor, wie etwa der Verfasser des Millionenbestsellers „Deutschland schafft sich ab“ , dann reagiert die politische Klasse pikiert bis aggressiv. Der von Volker Bouffier zitierte Slogan „So lange wie möglich Herausforderungen!“ sollte richtigerweise ersetzt werden durch: „So lange wie möglich verdrängen!“
Nebenbei: Die von Volker Bouffier erwähnte Wiedervereinigung wurde nicht hierzulande erkämpft sondern war das Ergebnis von Gorbatschows Perestroika und der Standhaftigkeit der Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs. Ein Armutszeugnis für uns, daß zwanzig Jahre später immer noch die östlichen Bundesländer dem Westen der Republik in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung weit hinter her hinken.
Im direkten Vergleich mit der Leistung der Alten bleibt den Jüngeren nur das Stilmittel der Diffamierung. Das harmloseste ist noch das spöttische Naserümpfen über den „Mief der Adenauerjahre“ (Thomas Unglaube im Vorwärts, 2011). Infamer ist die kollektive Schuldzuweisung für die NS-Verbrechen an die ganze Generation derjenigen, die den Karren aus dem Dreck gezogen haben und zuvor meist selbst Opfer und Leidtragende gewesen sind: …Desinteresse an der Verfolgung der Juden..als Versuch .. sich jeder Verantwortung .. durch ostentative Ahnungslosigkeit zu entziehen. Zitiert aus dem durch unsere Kulturpolitiker für den Unterricht an Schulen verordneten Lehrbuch „Kursbuch Geschichte“ des Cornelsen-Verlages, Seite 462.
Zur Ehrenrettung der Babyboomer bleibt bestenfalls anzumerken, daß sie lediglich kritiklos in die Fußstapfen ihrer geistigen Wegbereiter, der 68-er, getreten sind. Denn wie sagte schon der SPD-Kanzlerkandidat des Jahres 1990: Mit Tugenden wie Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit kann man auch ein KZ betreiben.
Unsere „Babyboomer“ halten nicht einmal das, was ihre Namensgebung eigentlich nahelegt: Nämlich für den Nachwuchs zu sorgen, der ihre Schuldenberge abtragen soll. Historiker späterer Zeiten werden einmal von den „verlorenen Jahren“ dieser Republik sprechen. Von daher haben die „Nullerjahre“ des abgelaufenen Jahrzehnts eine doppelte Bedeutung.
PS: Dieser Leserbrief wurde von der FAS nicht veröffentlicht.