Unsere Väter und Großväter: Alles Mörder und Mitwisser? Diffamierung im Schulunterricht
Veröffentlicht: 15. Mai 2012 Abgelegt unter: Deutsche Geschichte, Kollektivschuld, Manipulation in Schulbüchern | Tags: Cornelsen-Verlag, Günter Grass, Hans-Dietrich Genscher, Helmut Schmidt, ISBN 978-3-06-064733-0, Kollektivschuld, Kursbuch Geschichte, Peter Longerich Ein KommentarBrief an den Cornelsen-Verlag vom 13.10.2011
Unterrichtswerk für Sekundarstufe: Kursbuch Geschichte: 1. Auflage, 2. Druck 2010, ISBN 978-3-06-064733-0
Sehr geehrte Damen und Herren,
Zufällig hielt ich vor einiger Zeit besagten Band in den Händen und blätterte darin. Bei der Lektüre des Kapitels 9 stellte sich mir reflexartig die Frage:
Unsere Väter und Großväter: Alles Mörder und Mitwisser?
Die ehrliche und richtige Beantwortung ist nicht nur grundlegend für das historische Bewusstsein und das Generationenverständnis untereinander in unserem Land. Es geht auch um die Würde der noch lebenden Alten unter uns, die die Schrecken des Krieges noch am eigenen Leib erlitten haben. Daher können wir mit Fug und Recht erwarten, daß der relevante Stoff im Schulunterricht sehr sorgfältig behandelt wird.
Ja! Sie waren es!
So muß die einfache Schlussfolgerung lauten, wenn man den Unterrichtsstoff des Schulbuches: „Kursbuch Geschichte“ auf Seite 462 für bare Münze nimmt. Und dazu noch die didaktische Aufforderung:
Erarbeiten Sie … welche Informationen über die Judenvernichtung zu welchem Zeitpunkt vermutlich in Deutschland bekannt waren.
Einzige Quelle für die Schüler: Eine ganzseitige Zusammenstellung von Zitaten aus dem Werk von Peter Longerich:“ Davon haben wir nichts gewußt“ .
Und genau da patzt das Kursbuch Geschichte, in dem es seinem eigenem Anspruch untreu wird, der (ich zitiere) da lautet:
Der Weg zu historischen Kompetenzen:
-
Deutungskompetenz
-
Analysekompetenz
-
Methodenkompetenz
-
Urteils- und Orientierungskompetenz
-
Narrative Kompetenz
Und ergänzend: Es gehört zu den zentralen Kompetenzen des Geschichtsunterrichts in der Oberstufe, verschiedene Deutungen von Vergangenheit fach- und sachgerecht zu analysieren, zu vergleichen und zu beurteilen. (wörtliches Zitat auf Seite 348).
Und ausgerechnet hier gibt das Kursbuch nun keine Hilfestellung. Denn eine andere Deutung als die von Longerich wird nicht erwähnt. Zudem: Der Text ist ein Gewebe von Annahmen und Vermutungen, nachprüfbares sucht man vergebens. Trotzdem die Schlussfolgerung, gemünzt auf die deutsche Bevölkerung: …. eine Einstellung, sich jeder Verantwortung für das Geschehen durch ostentative Ahnungslosigkeit zu entziehen . Hier geht es nun nicht mehr nur um Wissen, sondern bereits um Verantwortung!
Was Longerich und leider auch das Kursbuch verschweigen: es gibt bekanntermaßen eine Reihe unverdächtiger Zeitzeugen, die sich dazu bekennen, von der Mordmaschinerie, nämlich der fabrikmäßig organisierten Tötung der Juden erst nach dem Krieg erfahren zu haben. Darunter honorige Namen wie Theodor Heuß, Richard von Weizäcker, Marion Gräfin Dönhoff, unser Altkanzler Helmut Schmidt. Die Reihe lässt sich fortsetzen, zum Beispiel mit dem bekannten Tagesthemenmoderator Hans Joachim Friedrichs:
Von den Verwüstungen, die das dritte Reich im Namen der Deutschen angerichtet hatte, ahnte ich wenig und wusste ich nichts. Das ganze Ausmaß des Grauens begann sich mir zu erschließen, als ich später Wochenschau-Aufnahmen von der Befreiung der KZ-Häftlinge sah… Aus: Ein Journalistenleben, 1994 Droemersche Verlagsanstalt, 1994, Seite 58
Oder unser langjähriger Außenminister Hans-Dietrich Genscher:
Das ganze Ausmaß der Judenvernichtung indessen – die Existenz von Vernichtungslagern wie Auschwitz und Majdanek – erfuhr ich, wie wohl die meisten Deutschen, erst nach dem Krieg. Aus: Erinnerungen, 1995 Wolf Jobst Siedler Verlag, Seite 53
Heuß, Genscher, Schmidt, Weizäcker, Friedrichs, alles notorische Lügner? Welches Interesse hätte der 92-jährige Helmut Schmidt, dem nur noch eine kurze Lebenszeit vergönnt ist, immer noch zu lügen? Denn üblicherweise machen die meisten Menschen noch im Angesicht des nahenden Todes reinen Tisch. Auch Günter Grass hat sich im hohen Alter dazu bekannt, in jungen Jahren als Freiwilliger der SS beigetreten zu sein. Hätte er auch nur die leiseste Ahnung davon gehabt, was sich da hinter den Stacheldrähten der KZs abspielte, er hätte diesen Schritt bestimmt nicht getan.
Abgesehen von denjenigen, die direkt an den Morden beteiligt waren und zum strengsten Stillschweigen (siehe weiter unten) verpflichtet waren: Woher sollte sich die große Masse der Deutschen informieren? In der gelenkten Presse der Diktatur gab es keine Nachrichten über die Massenmorde fernab der Heimat. Und sowohl die ausländische Presse als auch die „Feindsender“ berichteten praktisch nicht darüber. Auch das Kursbuch gibt dazu keine Hilfestellung; vergeblich sucht man nach entsprechenden Quellen. Dabei umfasst es auf 627 Inhaltsseiten dem kompletten Zeithorizont der Menschheitsgeschichte, angefangen von der Antike bis in die aktuelle Gegenwart. Hierbei sind allein 68 Seiten, somit 15% des Gesamtumfangs, den 12 Jahren des Nationalsozialismus gewidmet.
Leider gehört „Faktenwissen“ nicht zu den historischen Kompetenzen, denen sich dieses Schulbuch verpflichtet fühlt.
Ein anderer Historiker, der US-Amerikaner Alfred de Zayas, Völkerrechtsprofessor in Chicago und Vancouver, hat das Thema über das Wissen um die „Endlösung“ unter wissenschaftlicher Perspektive untersucht und ein Buch darüber verfasst: „Völkermord als Staatsgeheimnis“, 204 Seiten, 2011 Olzog Verlag. Im Vorwort schreibt Prof. Dr. Karl Doehring:
Dem Autor geht es um den Nachweis, daß die immer wieder erhobene Behauptung, der größte Teil der Deutschen habe durchaus von der mörderischen Judenverfolgung des NS-Regimes Kenntnis gehabt, der geschichtlichen Wahrheit nicht entspricht. Dieser Nachweis ist M.E. in vollem Umfang gelungen ….
Es wäre zu wünschen, daß das Kursbuch im Sinne seines eigenen Anspruchs (verschiedene Deutungen von Vergangenheit fach- und sachgerecht zu analysieren, zu vergleichen und zu beurteilen) auch diesen Historiker zitiert, insbesondere den zur Geheimhaltung verpflichtenden „ Führerbefehl Nr. 1“, der besagte:
- a) Niemand soll Kenntnis haben von geheimen Dingen, die nicht in seinen eigenen Aufgabenbereich gehören.
- b) Niemand soll mehr erfahren, als er zur Erfüllung der ihm gestellten Aufgabe wissen muss.
- c) Niemand soll früher Kenntnis erhalten, als es für die ihm gestellten Obliegenheiten notwendig ist.
- d) Niemand darf mehr oder früher geheimzuhaltende Aufträge an nachgeordnete Stellen weitergeben, als dies zur Erreichung des Zwecks unvermeidlich ist.
Aber blättern wir doch im Kursbuch einfach ein paar Seiten zurück; auf Seite 457 finden wir dort in Auszügen von Himmlers Posener Geheimreede 1943 vom Oktober 1943 vor hohen SS-Offizieren über die „Ausrottung des jüdischen Volkes“: … Es soll zwischen uns ausgesprochen sein und trotzdem werden wir nicht in der Öffentlichkeit darüber reden …. Und ist ein niemals genanntes und niemals zu nennendes Ruhmesblatt.. In der Druckversion noch deutlicher: .. trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden … Klarer kann die Aufforderung zur absoluten Geheimhaltung nicht formuliert werden. Und offenbar geht Himmler zu dem Zeitpunkt davon aus, daß diese Geheimhaltung funktioniert hat und funktionieren wird. Das hätten die Schüler auch selbst erarbeiten können, wenn nur auf Seite 462 ein Rückverweis auf 457 eingefügt worden wäre.
Erwähnenswert wäre im Kursbuch auch der in den letzten Kriegsjahren gedrehte NS-Propagandafilm Theresienstadt. Der Untertitel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ sagt bereits, daß es sich um ein Propagandawerk zur Vertuschung dessen handelte, was die Juden nach der Deportation wirklich erwartete.
Hiermit komme ich nun zum nächsten Kritikpunkt am Kursbuch: Fehlende Vermittlung von schlichter Wissenskompetenz! Zugegeben, eine unglückliche Wortschöpfung, nur gewählt um in der im Kursbuch verwendeten Terminologie zu bleiben. Aber diese Fähigkeit ist nun einmal grundlegend, um daraus die anderen Kompetenzen abzuleiten. Ohne Kenntnis der Faktenlage kein vernünftiges Urteil! Gerade wenn es um die Analyse des Weges zur NS-Herrschaft und um die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges kommt. Genau da weist das Kursbuch grobe Lücken auf. Exemplarisch seien nur einige Fehlstellen genannt:
- Die Entwicklung der Lage deutscher Minderheiten im polnischen Westen und im Sudetenland sowie ihre Instrumentalisierung auf beiden Seiten, einschließlich der blutigen Auseinandersetzungen in den Abstimmungsgebieten des Versailler Vertrages
- Europäische Komponente von Antisemitismus und Faschismus
- Zeitlicher Ablauf und Inhalt des diplomatischen Verkehrs zwischen Deutschland, Polen, England, Frankreich vor dem deutschen Angriff am 1. Sept. 1939
- Deutsche Befindlichkeit nach 800.000 Hungertoten durch Weltkrieg und fortgesetzter Blockade nach dem Waffenstillstand am 11.11.1918
- Die Rolle der Gebrüder Strasser und der von Hermann Göring
- Wiedereingliederung des Saarlandes 1935
Einen breiteren Umfang in der Darstellung hätten auch die heimischen Opfer der NS-Herrschaft verdient, wie etwa Behinderte, Kirchenleute, Kommunisten, Sozialisten, sonstige Oppositionelle, um nur einige zu nennen. Hier fehlen sowohl Opferzahlen als auch Namen (Exemplarisch Schleicher, Thälmann).
Ich möchte diese Kritik als konstruktiv verstanden wissen. Damit künftige Ausgaben dem angestrebten Bildungsauftrag besser gerecht werden.
Mit freundlichen Grüßen
Originaltext aus dem Kursbuch Geschichte: kursbuch
Antwort des Cornelsen-Verlages vom 25.10.2011
vielen Dank für Ihre Mail. Wir nehmen Hinweise und Kritik an unseren Lehrwerken und Materialien sehr ernst, die Redaktion wird Ihre Anmerkungen daher genau prüfen. Als Hintergrund zu den dargestellten Inhalten: Das Kursbuch Geschichte – Ausgabe Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern – wurde auf der Basis der Lehrpläne dieser drei Bundesländer konzipiert. Auswahl und Gewichtung der Themen folgen dabei den Vorgaben der von den jeweiligen Kultusministerien erlassenen Lehrpläne. Zusätzlich durchlief das Kursbuch ein ministerielles Prüfungsverfahren, an dem sowohl die Fachbeamten des Ministeriums als auch unabhängige Gutachter beteiligt waren. Es gab keinerlei Beanstandungen und das Lehrwerk wurde für den Gebrauch im Unterricht an den Gymnasien genehmigt.
Mit freundlichen Grüßen
[…] allerdings haben die 68-er bewirkt: Die Verunglimpfung der gesamten eigenen Eltern- und Großelterngeneration als kollektive NS-Mitwisser und Nazitäter. Diese an sich ungeheuerliche Anschuldigung diente den […]
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