Mir ist übel

Liebe Freunde,

die Ereignisse von Hanau liegen mir schwer im Magen. Da erschießt  ein Irrer einfach so zehn  Menschen, verletzt viele weitere und tötet dann seine Mutter und sich selbst. Ich mag mir das gar nicht vorstellen: Das Gemetzel, die Schreie der Opfer, der Todeskampf der Verblutenden, die Todesängste, der Schmerz, das Blut. Menschen, arglos, von einem Augenblick auf den anderen aus dem Leben gerissen. Die trauernden Hinterbliebenen, die Ihre Brüder, ihre Söhne, ihre Männer und auch eine Frau und Mutter verloren haben. Kleine Kinder, die von jetzt auf gleich mutter- und vaterlos wurden. Das jüngste Opfer war etwas über zwanzig, der älteste unter den Getöteten gerade mal vierundvierzig Jahre alt.

Warum? Die Nachrichtenagenturen berichten, daß der Täter unter paranoidem Verfolgungswahn litt, Zwangsvorstellungen hatte und sich deswegen  sogar mehrmals selbst persönlich an die Behörden gewandt hatte. Es ist unbegreiflich, warum dann so eine Person amtlicherseits noch die Erlaubnis zum Waffenerwerb erhält und mehrere Pistolen mitsamt ihrer tödlicher Munition einfach so kaufen darf.   Aber so geht es in einem Land, in dem der Datenschutz  offenbar Vorrang hat vor dem Lebensrecht seiner Bürger.

Die Leichen waren noch warm, als Politiker schon damit begannen, dieses Verbrechen ohne Skrupel für sich und ihre Zwecke auszuschlachten. Wie schon zuvor im Mordfall Lübcke oder beim Amoklauf von Halle wurde wieder einmal vehement versucht, der Opposition eine Mitschuld an den Morden in die Schuhe zu schieben. Als wenn die AfD solche Geistesgestörten wie Muttermörder, Verschwörungsgläubige, Selbstmörder und Paranoide zu ihren Taten anstiften würde. Erbärmlich: Die Medien machen eifrig mit bei diesem perfiden Spiel.

Gestern sahen wir auf der Mattscheibe in ARD und ZDF  sämtliche Nachrichtensprecher und Moderatoren schwarz gekleidet,  Steinmeier legte am Tatort Kränze nieder, die Verletzten wurden am Krankenbett interviewt, Angehörige gaben vor der Kamera ihren Gefühlen Ausdruck, Namen der Todesopfer genannt. Und immer wieder Spekulationen  und Schuldzuweisungen um geistige Anstifter oder gar Mitwisser.

Ich denke zurück an die Geschehnisse vor drei Jahren am Breitscheidplatz in Berlin. Ein Mordanschlag mit elf Todesopfern  und über fünfzig Verletzten. Damals gab es keinen Präsidenten, der noch am gleichen Tag Kränze niederlegte, keine Namen von Toten, keine Angehörigen vor der Kamera, keine Interviews mit Verletzten. Die erste amtliche Reaktion gegenüber den Hinterbliebenen sollten die Rechnungen aus dem Leichenschauhaus werden. So berichteten es übereinstimmend später mehrere Medien.

Ich denke nach: Es gibt in diesem Land offensichtlich Todesopfer erster und zweiter Klasse. Den einen wird ganze Aufmerksamkeit und öffentliche Trauer zuteil, Straßen und Plätze werden später nach ihnen benannt.  So bezeichnete der  Möchtegern-Kanzlerkandidat und NRW-Präsident Armin Laschet erst kürzlich den Brandanschlag in Solingen vor über 25 Jahren mit fünf türkischstämmigen  Todesopfern wörtlich als das „schrecklichste Ereignis in der Geschichte Nordrhein-Westfalens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.“

Erinnern wir uns, was alles nach 1945 geschah:  Beim Zugunglück in Radevormwald starben 46 Schüler, sie wurden in den Waggons zerquetscht. Das Grubenunglück in Dahlbusch forderte  41 Tote. 1988 starben bei einem Flugzeugabsturz in Mülheim an der Ruhr 21 Passagiere. Nicht zu vergessen die 19 Todesopfer und 300 Verletzte der Loveparade in Duisburg.  Alles in NRW. Nach der Wertung des Kandidaten Laschet alles nicht so schrecklich, sofern man seine vorgenannte Aussage wörtlich nimmt.

Die Toten vom  Breitscheidplatz, die verunglückten Schüler, die erstickten Bergleute, die Opfer in Duisburg und Mülheim: Der Tod kam schnell und unerwartet ohne ihr eigenes  Zutun; die Menschen wurden mitten aus dem Leben gerissen. So wie in Hanau hatten auch die Toten in Berlin, Radevormwald und andernorts keine Chance. Aber was war bei denen so anders? Richtig: Ihr Sterben eignet sich für die Regierenden  nicht zur politischen Instrumentalisierung, sie taugen nicht für den Meinungskampf der öffentlichen Medien. Oder besser gesagt: Für die stets gleiche miese, gebetsmühlenhafte Parteipropaganda.

Mir ist immer noch schlecht. Nein, es ist keine Magenverstimmung. Es ist einfach nur Ekel.

Mein Mitgefühl gilt den Verletzten, den Angehörigen, allen, die unter den schrecklichen Geschehnissen leiden.