Leserbriefdebatte in der FAZ: Linksliberale Wendungen, Kollektivschuld und die Achtundsechziger
Veröffentlicht: 13. Mai 2012 Abgelegt unter: Deutsche Geschichte, Leserbriefe an die FAZ, Leserbriefe an Rheinische Post | Tags: Achtundsechziger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Helmut Schmidt, Joachim Gauck, Kollektivschuld, Ralph Giordano 3 KommentareLeserbrief an die FAZ vom 12.5.2012
Die Antrittsrede von Joachim Gauck hat in der FAZ eine über mehrere Wochen andauernde kontroverse Diskussion unter den Leserbriefschreibern ausgelöst. Ein Ausgangspunkt war die Zuschrift von Felizitas Küble vom 2. April, in der sie sich kritisch mit der Hinterlassenschaft der von Gauck gelobten Achtundsechziger auseinandersetzt. Aus den Blickwinkel der Schriftleiterin eines kirchlichen Forums durchaus verständlich, gehörten doch Kernthesen jener Bewegung wie etwa die Forderung nach straffreier Abtreibung (mein Bauch gehört mir ) ebenso zu deren Credo wie das Bekenntnis zur ungehemmten Promiskuität (wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment). Samt und sonders Ansichten, die bis heute keinen Eingang gefunden haben in die Überzeugungen der Amtskirche. Auf der anderen Seite las man das von Ralph Giordano vehement und wiederholt vorgetragene Beharren auf der Kollektivschuld aller Deutschen an Hitlers Verbrechen. Ihm als persönlich betroffenen mag man seine extreme Position („die in ihrer Masse Hitlerbesoffenen Deutschen“) nachsehen. Kritische Beobachter der Auseinandersetzung wiesen in zahlreichen Zuschriften nach, daß seine selektive Erinnerung nicht deckungsgleich ist mit der kollektiven Erfahrung vieler übriger Verfolgter der NS-Herrschaft.
Kollektivschulddebatte und Achtundsechziger, wie kam das zusammen?
Der Jugendprotest gegen Herrschaft und Überzeugungen der älteren Generation war kein auf das bundesrepublikanische Deutschland beschränktes Phänomen. In Paris und Rom gab es zur selben Zeit die berüchtigten gewalttätigen Mai-Unruhen. In Detroit brannten im Jahr zuvor ganze Straßenzüge nieder. Die bundesdeutschen Achtundsechziger hatten indessen im Aufbegehren gegen die Elterngeneration einen unschätzbaren Waffenvorteil: Die Nazikeule. Mit aus dem Brustton der Überzeugung vorgebrachten Schlachtruf: „Ihr habt uns gar nichts zu sagen, denn Ihr seid ja allesamt die Judenmörder!“ wurde jede Auseinandersetzung gewonnen. Die Einrede des Nichtwissens überzeugte die revolutionären Besserwisser nicht: „Wenn sechs Millionen umgebracht wurden, dann müsst Ihr das gewusst haben!“ Damit war den Älteren jedes Argument aus der Hand geschlagen, sie waren wehr- und ehrlos. So galten denn auch die althergebrachten traditionellen Tugenden wie etwa Pflichtgefühl, Gehorsam, Vaterlandsliebe usw. plötzlich nichts mehr. Der spätere Kanzlerkandidat der SPD von 1990 brachte es auf den Punkt, wenn er Helmut Schmidt mit den Worten abkanzelte: „Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit. Damit kann man auch ein KZ betreiben.“ Nebenbei bemerkt: Der ehemalige Wehrmachtsoffizier und Altkanzler Helmut Schmidt beharrt bis heute darauf, während des Krieges vom Holocaust nichts mitbekommen zu haben.
Längst haben die Achtundsechziger den Marsch durch die Institutionen vollendet. Auch in den Amtsstuben der Kultusbürokratie haben sie sich wohnlich eingerichtet. Anstatt dort Däumchen zu drehen und auf die Pensionierung zu warten fühlen sie sich ihren alten ideologischen Überzeugungen verpflichtet. Und so schreiben sie Geschichts- und Lehrbücher in ihrem Sinne um. So etwa in dem aktuellen Standardwerk des Cornelsen-Verlages für den Geschichtsunterricht in der Oberstufe. Da ergeht auf Seite 462 die Aufforderung an die Lernenden:
Erarbeiten Sie … welche Informationen über die Judenvernichtung zu welchem Zeitpunkt vermutlich in Deutschland bekannt waren.
Einzige Quelle für die Schüler : Eine ganzseitige Zusammenstellung von Zitaten aus dem einseitig tendenzbehafteten Werk von Peter Longerich:“ Davon haben wir nichts gewusst“ .
Ich habe vor einigen Monaten den Cornelsen-Verlag auf diese didaktische Schlampigkeit (vermutlich!) aufmerksam gemacht. Hier die offizielle Antwort, mir mitgeteilt am 25.10.2011:
Das Kursbuch Geschichte – Ausgabe Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern – wurde auf der Basis der Lehrpläne dieser drei Bundesländer konzipiert. Auswahl und Gewichtung der Themen folgen dabei den Vorgaben der von den jeweiligen Kultusministerien erlassenen Lehrpläne. Zusätzlich durchlief das Kursbuch ein ministerielles Prüfungsverfahren, an dem sowohl die Fachbeamten des Ministeriums als auch unabhängige Gutachter beteiligt waren. Es gab keinerlei Beanstandungen und das Lehrwerk wurde für den Gebrauch im Unterricht an den Gymnasien genehmigt.
Es bleibt die Hoffnung, daß künftige, unbefangene Generationen von Historikern die Dinge wieder gerade rücken. Und den Achtundsechzigern den ihnen gebührenden Platz in den Geschichtsbüchern zuweisen.
Nachtrag am 5.3.2015
Erfreulich, daß die Debatte um die 68-er weitergeführt wird. Nachfolgend der Kommentar von Reinhold Michels in der Rheinischen Post: http://www.rp-online.de/politik/die-verlogenen-alt-68er-aid-1.4890856
Mein zustimmender Leserbrief wurde leider nicht veröffentlicht:
Reinhold Michels sei Dank, daß er die Selbstweihräucherung der Alt-68-er kritisch aufs Korn nimmt. Tatsächlich ist die Bilanz der Lebensleistung dieser Möchtegern-Revoluzzer ziemlich kläglich. Denn sie müssen sich nun mal messen lassen an der Leistung ihrer Altvorderen.
Es waren ihre Eltern, die nach dem Krieg dieses zerstörtes Land wieder aufgebauten, Millionen von Vertriebenen ein neues Dach über den Kopf gaben und sogar die Eingliederung der Kriegsversehrten in die Arbeitswelt bewältigten. Obendrein: Wirtschaftswunder und Vollbeschäftigung! Davon konnten die 68-er, die nach dem erfolgreichen Marsch durch die Institutionen schließlich an die Schalthebel der Macht gelangten, nur noch träumen. – Aber da ist doch noch die sexuelle Befreiung, die Überwindung herkömmlicher Rollenbilder, deren sich die 68-er noch heute so gerne rühmen? Falsch! Diese gesellschaftliche Entwicklung haben wir der Erfindung zweier amerikanischer Forscher zu verdanken. Denn Mitte der sechziger Jahre kann die „Antibaby-Pille“ auf den Markt. Damit wurde den Frauen ein sexuell selbstbestimmtes Leben möglich. Der Rest ist Geschichte. – Übrigens: Die Wiedervereinigung erwischte die 68-er sämtlich auf dem falschen Fuß. Die meisten lehnten sie rundheraus ab. „Nie wieder Deutschland“, so lautete damals eine gängige Parole. – Heute, fünfundzwanzig Jahre später, ist es an der Zeit, den selbstgebastelten Mythos dieser Gruppe zu entzaubern und einen unbefangenen Blick auf das tatsächlich Erreichte zu werfen. Und das ist eher kümmerlich.