Sarrazins Behauptungen widerlegt?
Veröffentlicht: 11. März 2015 Abgelegt unter: Sarrazindebatte | Tags: BAMF, Dr. Manfred Schmidt, Foroutan, Heymat, Naika Foroutan, Prüfstand, Sarrazin 3 KommentareWar das ein Flop! Da erklärte Dr. Manfred Schmidt, Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), vollmundig im Dezember vergangenen vor dem Presseclub in Nürnberg, „er könne die Behauptungen Sarrazins in wenigen Minuten widerlegen.“ Die Medien berichteten ausführlich darüber.
Leider stellte er dieses Können im weiteren Verlauf seiner Ausführungen nicht unter Beweis. Das weckte meine Neugier. Welche Behauptungen hatte er wohl im Sinn? Und wie sollte die Widerlegung aussehen? Ich schrieb einen Brief an Dr. Schmidt:
Sehr geehrter Herr Dr. Schmidt,
in verschiedenen Presseorganen, so auch der Rheinischen Post vom 18.12.2014, werden Sie in indirekter Rede mit folgender Aussage zitiert: Behauptungen, wie sie Thilo Sarrazin aufgestellt habe, könne er „in wenigen Minuten widerlegen“. Trotzdem würden sie millionenfach verbreitet.
Quelle: http://www.rp-online.de/politik/chef-des-fluechtlingsamts-ich-stehe-hilflos-vor-pegida-aid-1.4747942
Vermutlich sprechen Sie auf das Buch: „Deutschland schafft sich ab“ des vorgenannten Autors an. Ich habe dieses Buch gelesen. Ausdrücklich wird dort die gute Integration asiatischer, aber auch osteuropäischer Zuwanderer genannt. Persönlichkeiten wie Prof. Bassam Tibi oder Necla Kelec kommen in dem Werk ausführlich zu Wort. Welche „Behauptungen“ Sarrazins können Sie in wenigen Minuten widerlegen? Haben Sie das bereits in irgendeiner Form für die Öffentlichkeit zu Papier gebracht? Für spezifische Anhaltspunkte wäre die Nennung von Kapitelüberschriften und Seitenangaben in dem Buch hilfreich. Sofern Sie nicht das Buch, sondern Äußerungen von Thilo Sarrazin aus einen anderen Zusammenhang gemeint haben sollten, wäre ich für eine Konkretisierung dankbar.
Besten Dank, mit freundlichen Grüßen
Im Januar bekam ich eine E-Mail von der Pressestelle des BANF:
Sehr geehrte Herr Ulrich,
vielen Dank für Ihre Anfrage an Herrn Dr. Schmidt zur Widerlegbarkeit der Behauptungen von Thilo Sarrazin. Herr Dr. Schmidt bat mich Ihnen zu antworten und Sie auf das Dossier der Humboldt-Universität Berlin zur Sarrazin-Debatte hinzuweisen. Link: http://www.heymat.hu-berlin.de/dossier-sarrazin-2010. Ich empfehle im Besonderen den Schriftsatz von Naika Foroutan „Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand – empirischer Gegenentwurf zu Thilo Sarrazins Thesen zu Muslimen in Deutschland“.
Ich hoffe, ich konnte Ihnen mit diesen Informationen behilflich sein.
Mit freundlichen Grüßen
im Auftrag
Tanja Sxxxx
________________________
Büro des Präsidenten
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
Ich war enttäuscht. Eine Widerlegung innerhalb weniger Minuten hatte ich mir anders vorgestellt. Statt einer dessen ein 80-Seiten-Papier einer Berliner Forschergruppe. So machte ich mich denn ans Werk. Hier nun das Ergebnis, das ich Dr. Schmidt schriftlich mitteilte:
Sehr geehrter Herr Dr. Schmidt,
haben Sie zunächst herzlichen Dank, daß Sie meiner Bitte um Konkretisierung Ihrer am 16. Dezember vergangenen Jahres im Nürnberger Presseclub getätigten Interviewäußerungen nachgekommen sind. In den Medien wurden Sie wie folgt zitiert: Behauptungen, wie sie Thilo Sarrazin aufgestellt habe, könne er „in wenigen Minuten widerlegen“. Trotzdem würden sie millionenfach verbreitet.
Im Januar teilte mir Ihre Pressestelle auf Nachfrage mit: Herr Dr. Schmidt bat mich Ihnen zu antworten und Sie auf das Dossier der Humboldt-Universität Berlin zur Sarrazin-Debatte hinzuweisen. Link: http://www.heymat.hu-berlin.de/dossier-sarrazin-2010. Ich empfehle im Besonderen den Schriftsatz von Naika Foroutan „Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand – empirischer Gegenentwurf zu Thilo Sarrazins Thesen zu Muslimen in Deutschland“.
Trotzdem kann ich meine Enttäuschung nicht verhehlen. Ich hätte erwartet, daß die versprochene „Widerlegung der Behauptungen, wie sie Thilo Sarrazin aufgestellt hat, innerhalb weniger Minuten“ ein Ergebnis Ihrer eigenen Gedankenarbeit ist. Stattdessen verweisen Sie auf ein 80-Seiten-Dossier des Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität zu Berlin aus dem Jahr 2010. Dieses Papier aus der Feder der Migrationsforscherin Dr. Naika Foroutan und ihrer Mitarbeiter ist gespickt mit Statistiken und Querverweisen auf andere Studien im Umfang mehrerer hundert Seiten. Eine „Widerlegung innerhalb weniger Minuten“ sieht nach meinem Verständnis anders aus.
Indessen: Dieses Dossier mit dem Titel „Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand – Ein empirischer Gegenentwurf zu Thilo Sarrazins Thesen zu Muslimen in Deutschland“ hält beim näheren Hinsehen leider nicht das, was es im Titel verspricht. Dies beginnt bereits mit der Themenauswahl. Dr. Sarrazins Werk umfasst insgesamt neun Kapitel, das Dossier konzentriert sich indessen ausschließlich auf einzelne Abschnitte im Kapitel 7. Und auch dort bleiben wichtige Inhalte unkommentiert, wie etwa die qualitativen Aussagen von Heinz Buschkowsky, Kirstin Heisig, Necla Kelec, Seyran Ates oder Hirsi Ali. „Der empirische Gegenentwurf“ ist gründlich mißlungen. Üblicherweise legt man an die offizielle Schrift einer Universität bestimmte Messlatten für Wissenschaftlichkeit. Das vorliegende Dossier wird diesem Anspruch nicht gerecht. Es handelt sich um ein politisches Pamphlet, nicht um eine wissenschaftliche Arbeit. Ich werde das nachfolgend ausführlich erläutern und begründen.
Hierbei verstoße ich ganz bewußt gegen die Aufforderung der AutorInnen: Die weitere Verlinkung der Dossiers (bzw. auch das Kopieren der Inhalte daraus) und des Briefes des Polizeipräsidenten ist ohne Erlaubnis der MitarbeiterInnen des Heymat-Projektes untersagt. (so der Warnhinweis auf dem Internetauftritt der Universität, 25.2.2015) http://www.heymat.hu-berlin.de/dossier-sarrazin-2010
Hingegen ist eine Argumentation gegen dieses Dossier unmöglich, wenn dessen Inhalte nicht zitiert werden dürfen. Im nachfolgenden Text werde ich der besseren Lesbarkeit wegen die akademischen Titel und die Vornamen von Dr. Naika Foroutan sowie von Dr. Thilo Sarrazin fortlassen. Damit ist keine Herabsetzung der Personen beabsichtigt.
Die von Sarrazin referierten Zahlenwerke werden auch von Foroutan nicht in Frage gestellt. Dies wäre auch schwerlich möglich, handelt es sich doch ganz überwiegend um Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes, nämlich um die Daten des Mikrozensus 2007. Foroutan präsentiert andere Statistiken, die mit denen von Sarrazin nur sehr bedingt vergleichbar sind. Die unterschiedlichen Erhebungsmethoden der Rohdaten erklären im Wesentlichen die Abweichungen in den Ergebnissen. Darauf werde ich nachfolgend näher eingehen. Tendenziell bestätigen indessen auch die von Foroutan präsentierten Zahlenwerke die Aussagen von Sarrazin. Im Original: Die im Zuge dieser Debatte diskutierten Zahlen und Thesen zu Missständen der Integration sind jedoch keineswegs neu, sie stellen keinen Tabubruch dar oder sind bislang verschwiegene Befunde (Seite 11). Der Leser fragt sich verwundert: Wozu dann die Aufregung?
An manchen Stellen des Dossiers unterstellt Foroutan Aussagen, die Sarrazin nicht getätigt hat. Die anschließende argumentative Widerlegung läuft somit ins Leere. Ein Beispiel: Die „Bildungsdynamik“ über Generationen. Hier würden von Sarrazin Verbesserungen bestritten. Tatsächlich belegt Sarrazin lediglich, daß die Bildungserfolge der zweiten Generation der Muslime im Vergleich zu anderen Einwanderergruppen hinterherhinken. Diese Beobachtung wird indessen auch von Foroutan nicht verneint, sondern sogar bestätigt. Aus dem Dossier: Wir sind in diesem Dossier vor allem deskriptiv vorgegangen und haben auf analysierende und interpretierende Ansätze weitestgehend verzichtet, um die Zahlen objektivzugänglich zu machen. Das Dossier erfüllt daher seinen Zweck bereits indem es zeigt, dass das vorhandene Datenmaterial durchaus die Möglichkeit eröffnet, andere Schlüsse zu ziehen. Zum Vorwurf, wir hätten das Datenmaterial selektivzusammengestellt: Zweck des Dossiers war es, so wie die Überschrift bereits nahelegt, einen empirischen Gegenentwurf zu den von Thilo Sarrazin in den öffentlichen Raum geschleuderten Thesen zu Muslimen in Deutschland vorzustellen. (Dossier, Seite 6)
Dies ist nicht richtig. Selbstverständlich werden die Zahlen interpretiert. Zudem verwendet Foroutan andere Statistiken. Während sich Sarrazin in wesentlichen auf die Zahlen des Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes (Stand 2007) beruft, verwendet Foroutan eine Vielzahl von Studien, deren Daten auf unterschiedlichen Wegen erhoben worden sind. Wie erwähnt, erklären sich manche Differenzen bereits durch die Verschiedenartigkeit der Datengewinnung. Nachfolgend eine Auflistung der diversen Studien, die je nach Kontext selektiv Verwendung finden:
Destatis, Mikrozensus: (Jahrgänge 2007 und 2009) Hier wurden 1% der Wohnbevölkerung Deutschlands befragt. Die Auskunftserteilung war verpflichtend. Damit wurden von den hier lebenden ca. 16 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund etwa 160.000 befragt, davon über 20.000 türkischer Herkunft. Damit hat der Mikrozensus die mit Abstand breiteste Datenbasis im Vergleich zu den nachfolgend erwähnten Untersuchungen. Eine gewisse Unschärfe ergibt sich durch die relativ hohe Zahl von über zwei Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, die nicht eindeutig einer Herkunft zuzuordnen sind, z.B. Familien gemischter nichtdeutscher Nationalität-.
MLD: Muslimisches Leben in Deutschland. BAMF 2009 Die Daten wurden aus einer telefonischen Befragung von ca. 6.000 Anschlußteilnehmern gewonnen, davon 683 Türken. In der Auswahl waren nur Haushalte mit Festnetzanschluß. Davon verweigerte über die Hälfte der Befragten die Teilnahme. Es ist fraglich, ob die Teilmenge derjenigen, die dann tatsächlich Auskunft gegeben haben, für die Gesamtheit repräsentativ ist. Das Problem wurde von den Autoren der MLD-Studie zwar erkannt, aber nicht näher untersucht.
Zuwanderer in Deutschland, Umfrage von Allensbach 2009 im Auftrag der Bertelsmannstiftung. Basis: 1.581 Interviews mit einem repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung mit Migrationshintergrund aus der Türkei (304 Interviews), der ehemaligen Sowjetunion (bzw. den Nachfolgestaaten Kasachstan, Russland, Ukraine), dem ehemaligen Jugoslawien (bzw. den Nachfolgestaaten Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Serbien, Montenegro, Kosovo, Mazedonien, Slowenien), Polen, Italien, Spanien und Griechenland ab 16 Jahren. Analog zur Definition, die dem Mikrozensus zu Grunde liegt, werden sowohl ausländische als auch deutsche Staatsbürger befragt, die entweder selbst aus dem Ausland zugewandert sind oder die zwar in Deutschland geboren sind, von denen aber mindestens ein Elternteil nach 1950 aus dem Ausland zugewandert ist.
Fortschritte der Integration BAMF Datenbasis: Repräsentativbefragung „Ausgewählte Migrantengruppen in Deutschland 2006/2007“ (RAM 2006/2007) Von Dezember 2006 bis April 2007 wurden insgesamt 4.576 Personen befragt (1.544 türkische Befragte, 972 Befragte aus dem ehemaligen Jugoslawien, 746 italienische, 677 griechische und 637 polnische Befragte) Die Auswahlkriterien bezogen auf den Stichtag 30. Juni 2006 waren dabei folgende: türkische, griechische, italienische oder polnische Staatsangehörigkeit oder eine Staatsangehörigkeit eines Nachfolgestaates des ehemaligen Jugoslawien (Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Slowenien, Serbien und Montenegro, Jugoslawien oder Mazedonien), Vollendung des 14. Lebensjahrs und jünger als 80 Jahre. Keine Angabe über den Prozentsatz der „Interviewverweigerer“.
Religionsmonitor 2008, Muslimische Religiosität in Deutschland, Bertelsmannstiftung. 2.000 Muslime im Alter von 18 bis 80 wurden repräsentativ befragt. Die Methodik der Zielgruppenansprache sowie die Erfolgsquote (Interviewverweigerer versus Auskunftswillige) werden in dem Papier nicht erwähnt.
SVR (Sachverständigenrat) Integrationsbarometer 2010. Zitat: „Insgesamt wurden im Herbst 2009 in drei Regionen 5.673 Personen telefonisch interviewt. Ausgewählt wurden die Regionen Rhein-Ruhr, Stuttgart und Rhein-Main. (Nicht Berlin, Anm.)Es wurden als Teile der Zuwandererbevölkerung Personen türkischer Herkunft, die Gruppe der Spät-/Aussiedler, Zuwanderer aus dem EU-Raum, außerdem Personen aus Nicht-EU-Europa sowie der ‚übrigen Welt‘ berücksichtigt. Die Gesamtstichprobe setzt sich zu 80,5 Prozent aus Personen mit Migrationshintergrund und zu 19,5 Prozent aus Personen ohne Migrationshintergrund zusammen. 15,6 Prozent der Gesamtstichprobe kamen als Spät-/Aussiedler nach Deutschland, 17,5 Prozent haben einen türkischen Hintergrund, 23,8 Prozent – und damit die größte Gruppe – stammt aus Ländern der Europäischen Union, 11,1 Prozent aus europäischen Ländern außerhalb der Europäischen Union und 12,5 Prozent aus lateinamerikanischen, afrikanischen oder asiatischen Ländern. Die für die Befragung verwendeten Telefonnummern entstammen dem Nummernpool des Arbeitskreises Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute e. V. Pro Haushalt wurde jeweils eine mindestens 16-jährige Person befragt. Ergänzend wurden onomastisch ausgewählte Rufnummern genutzt, um Personen mit Migrationshintergrund in nichtstädtischen und Stadtrandgebieten besser zu erreichen. 18,1 Prozent der Stichprobe wurden über onomastische Telefonnummern realisiert. Bilinguale Interviewer boten die Befragung auf Russisch und Türkisch an. Zusätzlich wurde im Bedarfsfall für einzelne Teile des Interviews oder einzelne Worte in die Fremdsprache gewechselt bzw. bei den türkischen Interviews auch ins Deutsche. Bei 2 Prozent der angerufenen Haushalte konnte aufgrund von Verständigungsproblemen kein Interview geführt werden.— Ende des Zitates. Keine Angabe zu Interviewverweigerern.
Nun zum Inhalt des Dossiers:
Seite 7 (Einleitung): Foroutan wirft Sarrazin an einem Fallbeispiel eine „subjektive Widergabe“ vor. Hier empfiehlt sich die Lektüre der referenzierten Quelle. Damit erübrigt sich jeder weitere Kommentar: Behrendt, Michael und Ganze, Sergej: „Irgendwann kämpfst du nur noch um dein Leben“, in: Berliner Morgenpost, 12.12.2009. http://www.morgenpost.de/berlin/article1222632/Irgendwann-kaempfstdu-nur-noch-um-dein-Leben.html
Zentrale Ergebnisse (Dossier Seite 16,17,18)
Seite 16 (Sichtbare Dynamik der Bildungsverläufe und Bildungsanstieg bei zweiter Generation) Aus dem Dossier-Text: Die konsequent vertretene These Thilo Sarrazins, dass speziell bei der Gruppe der Muslime in Deutschland keine positive Entwicklung der Bildungssituation zu konstatieren sei, was er auf kulturelle Grundmuster der Sozialisation zurückführt, findet keine Entsprechung im statistischen Datenmaterial und ist damit empirisch nicht haltbar. … Dies widerspricht der These Sarrazins, dass es hinsichtlich der Bildungsabschlüsse von Personen mit muslimischem Migrationshintergrund auch über die Generationenfolge hinweg keine positive Entwicklung gäbe.
Hier wird Sarrazin eine These unterstellt, für die es im Buch keine Quelle gibt. Seite 16: (Personen mit türkischem Migrationshintergrund liegen zurück, aber Dynamik des Bildungsaufstiegs am höchsten) Hier fehlt der Bezug zum Text des Buches. Die „800%-Arithmetik“ des Dossiers über den Bildungsanstieg der zweiten Generation ist bereits in der Vergangenheit zur Genüge von anderen Kommentatoren ironisch gewürdigt worden.
Seite 16: Höhere Bildungsaspiration bei Familien mit türkischem Migrationshintergrund
Aus dem Dossier-Text: Sarrazin unterstellt dieser Gruppe auch Lernunwilligkeit. Dennoch wird gerade Familien mit türkischem Migrationshintergrund eine höhere Bildungsaspiration im Vergleich zu Familien ohne Migrationshintergrund beim gewünschten Schulabschluss Abitur attestiert. Hier muß man genau lesen: Bildungsaspiration ist kein bei Sarrazin verwendeter Begriff. Dieser Terminus bezeichnet den Wunsch, daß die eigenen Kinder einen höheren Bildungsabschluss erreichen sollen als die Eltern. Da ein sehr hoher Anteil der türkischen Immigranten der ersten Generation entweder keinen oder einen niedrigen Bildungsabschluß hatte, ist es nur logisch, daß diese den eigenen Kindern einen bessere Ausbildung auf den Weg geben wollen. Hingegen kommt die einheimische Bevölkerung bereits von einem vergleichsweise hohen Niveau. Verständlich ausgedrückt: Ein Hauptschulabgänger, der seine Kinder auf die Realschule schickt, hat in dieser Lesart eine höhere Bildungsaspiration als der Professor, der seinem Nachwuchs eine gymnasiale Bildung angedeihen lässt.
Seite 17: (Zahl von Hartz IV-Bezügen bei Personen mit türkischem Migrationshintergrund höher, aber niedriger als dargestellt)
Aus dem Dossier-Text: Hier sind Schwächen innerhalb der Gruppe der Personen mit türkischem Migrationshintergrund zu beobachten, die laut Mikrozensus 2008 zu 9,5% ihren Lebensunterhalt überwiegend aus Hartz-IV bestreiten, während dies bei der Bevölkerung ohne Migr.hintergrund nur zu 3,5% zutrifft. Dennoch steht diese Zahl der durch Sarrazin suggerierten Hartz-IV-Quote von 40% stark abweichend gegenüber. Hier wird bewußt mit falschen Vergleichen operiert. Siehe dazu auch den Kommentar zu Seite 36 im unteren Abschnitt.
Seite 20: Aus dem Text: Folgt man Thilo Sarrazins Ausführungen, so könnte zunächst der Eindruck entstehen, die Nachkommen muslimischer Migranten würden keine Bildungserfolge verzeichnen.
Man achte auf die Wortwahl: Der Eindruck könnte entstehen. Tatsächlich referenziert Sarrazin in seinen Aussagen lediglich auf den IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung)-Kurzbericht Nr. 17 von 2008, in dem ebenfalls wörtlich zu lesen ist: .. Hinsichtlich der beruflichen Bildungsabschlüsse von jungen Migranten zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei den Schulabschlüssen. (Spät-)Aussiedler sind dem Muster der Deutschen ohne Migrationshintergrund (12% ohne Berufsabschluss, 68% mit Berufsausbildung, 20% mit (Fach-)Hochschulabschluss) noch am nächsten. Personen mit türkischer Herkunft haben weitaus häufiger keinen Abschluss: Unter den Deutschen mit türkischer Herkunft sind es 33 Prozent, bei den türkischem Staatsangehörigen sogar 54 Prozent. Auch die Anteile mit Berufsausbildung (57% bzw. 44%) und (Fach-) Hochschulabschluss (10% bzw. 2%) unterscheiden sich deutlich von denen der gleichaltrigen Einheimischen.
In der nachfolgenden Argumentation des Dossiers (bis Seite 22) wird hingegen hervorgehoben, daß die zweite Generation der türkischen Einwanderer höhere Bildungsabschlüsse erreicht als die ihrer Eltern. Das ist weder eine Widerlegung der von Sarrazin genannten absoluten Zahlen noch der darauf aufgebauten Argumentation. Das auf Seite 23 des Dossiers zitierte Zahlenwerk Sarrazins stammt aus dem Mikrozensus 2007 und ist dort nachprüfbar. Bemerkenswert, daß auch aus der Abbildung 3 des Dossiers (Seite 23) hervorgeht, daß in Altersgruppe der 20- bis 25-jährigen die türkischstämmigen Migranten zu 23,4% einen FH- oder Hochschulreife erlangen, während die Vergleichsgruppe der übrigen Migranten auf einen Wert von 37,6% kommt. (Wie man in dieser Tabelle leicht nachprüfen kann, unterlief den Autoren des Dossiers ein simpler Rechenfehler: Tatsächlich weisen sie die Erfolgsquote der türkischstämmigen Gruppe mit 22,4% sogar zu niedrig aus. Fälschlicherweise haben sie bei ihrer Rechnung auch diejenigen berücksichtigt, die sich noch in schulischer Ausbildung befinden.)
Seite 25, Zitat aus der PISA-Studie: Die Ergebnisse der aktuellen PISA-Studie (Klieme, Eckhard et al./DIPF 201015) für das Jahr 2009 bestätigen ebenfalls eine ansteigende Dynamik der Bildungserfolge von Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund – darunter werden auch jene Jugendliche gefasst, die einen türkischen Migrationshintergrund haben. Hier werden Äpfel mit Birnen gemischt. Wie auch Sarrazin anhand des statistischen Materials feststellt, erreichen Schüler osteuropäischer und asiatischer Herkunft deutlich überdurchschnittliche Bildungsabschlüsse. Von der Gesamtheit der Migranten auf die Teilmenge der türkischstämmigen zu schließen ist schlichtweg eine Irreführung. Dieser fehlerhafte Argumentationsstrang wird noch auf Seite 26 des Dossiers weitergeführt.
Seite 31: Die Abbildung Nr. 8 des Dossiers gibt Rätsel auf. Migranten der Altersgruppen 20-25 Jahre aus den Ländern, Irak, Iran und Afghanistan hätten zu über 50% Abitur oder Fachabitur, insgesamt etwa 18.000 Personen. Das wird im Text auch so zitiert. Bei der Aufschlüsselung auf die Länder selbst ist diese Rechnung nicht mehr nachvollziehbar. Dort steht bei den genannten Ländern einfach ein Schrägstrich. Der oben erwähnte Rechenfehler der Abbildung 3 findet sich auch hier wieder.
Seite 33: Aus dem Dossier: Richtig ist, dass Personen mit einem beruflichen Bildungsabschluss ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt erheblich erhöhen, dennoch kann festgestellt werden (S. 4 des IAB-Kurzberichts), dass auch 26-35 Jährige ohne berufliche Bildung mehrheitlich am Erwerbsleben teilhaben. Falsch! Die Statistik des IAB, auf die sich diese Aussage bezieht, nennt Personen, die „dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen“, d.h. incl. Arbeitslose und Langzeitarbeitslose, somit auch Bezieher von Arbeitslosengeld und Harz-IV. Nach normalem Sprachverständnis nehmen diese eben gerade nicht am Erwerbsleben teil.
Seite 35: Foroutan folgert am Schluß dieses Abschnittes: Der Grund dafür, dass unterschiedliche Gruppen unter ähnlichen bzw. gleichen Ausbildungs-bzw. Bildungsbedingungen geringere Chancen haben, erwerbstätig zu sein, als Personen ohne Migrationshintergrund, kann an der unterschiedlichen Bewertung der Ausbildungsabschlüsse für verschiedene Gruppen durch den Arbeitgeber, an fehlenden arbeitsmarktrelevanten Ressourcen z.B. aufgrund der sozialen Herkunft oder mangelnden sozialen Netzwerke, an institutioneller Diskriminierung durch Betriebe z.B. bei der Bewerberauswahl oder an den Einstellungen, der Gesellschaft oder Wirtschaft gegenüber verschiedenen Gruppen liegen.
Damit bestätigt sie implizit Sarrazins Aussage und lenkt gleichzeitig von dem spezifischen Problem der türkischstämmigen Migranten ab. Die Folgerung selbst ist reine Spekulation.
Seite 36: Berechnung von Transferleistungen: Hier bemängelt Foroutan Sarrazins Aussage: Bei den muslimischen Migranten entfallen auf 100 Menschen, die ihren Lebensunterhalt überwiegend aus Erwerbstätigkeit bestreiten, 43,6 Menschen, die überwiegend von Arbeitslosengeld und Hartz IV leben.
Implizit stimmt Foroutan zu: Diese verklausulierte Formulierung ist zwar zutreffend, um dann zu relativieren: wenn allerdings – wie gemeinhin üblich – die Zahlen in Relation an der Gesamtbevölkerung der Personen mit türkischem Migrationshintergrund und nicht nur in Relation zu den Erwerbspersonen gemessen werden, ergibt sich laut Mikrozensus 2008 (2010) speziell für die Gruppe der Menschen mit türkischem Migrationshintergrund mit 9,5% eine weitaus geringere Zahl derer, die ihren überwiegenden Lebensunterhalt von Hartz-IV bestreiten.
Hier irrt Foroutan. Genau das ist nicht üblich. Denn sie unterschlägt die abhängigen Familienangehörigen, die in den Hartz-IV-Haushalten leben. Die tatsächlichen Zahlen des Mikrozensus 2009 lauten für die türkischstämmige Bevölkerung jeweils in Tausend: Erwerbstätige: 871, Arbeitslosengeld- und Harz-IV-Bezieher: 351, Rentner: 233, abhängige Familienangehörige: 992.
Seite 38-40: Sprachverständnis
Auch die von Foroutan vorgelegten Statistiken bestätigen, daß unter den Migranten die Gruppe der türkischstämmigen im Mittel die schlechtesten Sprachkenntnisse aufweist: Abbildung 14, Seite 40. Damit werden die zitierten Aussagen indirekt bestätigt.
Seite 42: Kopftuch
Foroutan bemängelt die von Sarrazin zitierten Angaben zum Gebrauch des Kopftuchs. Sie unterschlägt im Zitat, daß diese Zahlen zifferngenau dem Religionsmonitor 2008 der Bertelsmann-Stiftung entnommen sind, worauf der Autor in seinem Werk ausdrücklich und einschränkend hinweist. Wenn sich in der von Foroutan genannten Umfrage (MLD) ein geringfügig abweichendes Bild ergibt, dann sollte die Vergleichbarkeit von Datenbasis und Befragungstechnik analysiert werden. Leider geht das Dossier auf diese Problematik nicht ein. Wenn nun Foroutan spitzfindig zwischen der „Zustimmung zum Tragen des Kopftuches“ und dem „Tragen des Kopftuches“ bei den befragten Frauen unterscheidet, dann gerät die Argumentation ins Absurde. Das ist reine Rabulistik. Wenn eine Muslimin das Kopftuchtragen bejaht, dann kann man logischerweise davon ausgehen, daß diese Verhüllung auch getragen wird. (Seite 43 und 44)
Seite 45: Schwimmunterricht
Sarrazin nennt keine konkreten Zahlen, sondern eine öffentliche Wahrnehmung. Foroutan hält dagegen, daß nach MLD-Studie nur 7 bis 10 Prozent sich dem koedukativen Schwimmuntericht verweigern. Über die Aussagefähigkeit der MLD-Studie und der Stichprobenerhebung durch Interview kann nur spekuliert werden; siehe dazu obige Anmerkungen. Zur öffentlichen Wahrnehmung sei auf ein Zitat aus dem Werk des Bürgermeisters von Neukölln, Heinz Buschkowsky, verwiesen: Die Konfliktfelder in der Schule sind die, die Sie kennen. Sexualkunde, Speisetabus, Kleidung, Gebetsräume, Klassenreisen, Sport- und Schwimmunterricht. Die Schulleiter und Lehrer schweigen …
Seiten 47 – 52 (soziale Integration) enthalten keine neuen Aspekte, sondern wärmen im Wesentlichen das bereits bekannte Kopftuchthema auf. Interessant wird es im nächsten Abschnitt „Partnerwahl“.
Seite 53 (Partnerwahl)
Erstaunlicherweise bestätigen gerade die von Foroutan vorgelegten Zahlen die fortbestehende Segregation in der Partnerwahl: Selbst in der zweiten Generation türkischstämmiger Migranten heiratet nicht einmal jede zehnte Frau einen Mann außerhalb ihres Kreises (Zahlenverhältnis 4,2 zu 50,8). Bei den Männern sieht es etwas besser aus: Dort bleiben „nur“ 76% unter Ihresgleichen. Damit bildet die Gruppe der Türkischstämmigen die in sich abgeschlossenste unter allen Migranten. (Abbildung 21, Seite 54)
Seite 55 Foroutans erstaunliche Erkenntnis: Auch deutschstämmige heiraten hierzulande vorwiegend wieder deutsche Partner. Aussagewert??? Die daraus abgeleitete Aussage: Muslimische Männer haben trotz eines rückläufigen Trends „im Vergleich von Christen und Muslimen die stärkste absolute Tendenz, Frauen außerhalb ihrer eigenen Religionsgemeinschaft zu ehelichen.“ Dieses Zitat stammt tatsächlich aus: Working Paper Nr. 33 der Forschungsgruppe des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aus der Reihe „Integrationsreport“ (Teil 7). Hier ist jede Sicherung für wissenschaftliche Qualität durchgebrannt. Erinnern wir uns: In Deutschland haben von ca. 80 Mio. Einwohnern nur ca. 5 Mio. einen muslimischen Hintergrund. Und trotzdem bleibt die Gruppe der Türken bei Eheschließungen weitgehend unter sich. (76% seitens der Männer, 88% der Frauen).
Seite 57-60 (Kriminalität) Es ist müßig, auf den Argumentationsstrang des Dossiers, insbesondere den Gefälligkeitsbrief des Polizeipräsidenten, einzugehen. Belassen wir es bei der von Heinz Buschkowsky aufgestellten und bis jetzt nicht widerlegten Aussage: „70% der Insassen in Berliner Gefängnissen sind muslimisch“.
Fazit: Es ist eine Binsenweisheit für jeden empirischen Wissenschaftler: „Nichts geht über das Studium der Primärquellen“. Genau das möchte uns Dr. Naika Foroutan aber vorenthalten. Schreibt sie doch in ihrem Fazit: Man muss das Buch von Thilo Sarrazin nicht gelesen haben, um dessen abwertende Thesen speziell mit Bezugnahme auf „die Muslime“ – wahlweise auch auf „die Türken und Araber“ – zu erkennen.
Die Botschaft von Sarrazins Werk erschließt sich indessen nicht durch selektive Lektüre von aus dem Kontext gerissenen Zitaten eines einzelnen Kapitels. Voraussetzung für das Verständnis des Gesamtzusammenhanges ist vielmehr der Inhalt der über zweihundertfünfzig vorangehenden Seiten, die sich mit dem Versagen unserer Bildungssysteme, den falschen Anreizen unseres Sozialstaates, sowie der Problematik der Vergreisung der autochthonen Bevölkerung beschäftigen.
Thilo Sarrazin beschließt sein Werk „Deutschland schafft sich ab“ aus dem Jahre 2010 mit den Worten: Hic Rhodos, hic salta! Die versuchte „Widerlegung seiner Behauptungen“ durch das Dossier von Dr. Naika Foroutan ist eindeutig zu kurz gesprungen.
Herr Dr. Schmidt, ich hoffe, Ihnen mit der Analyse des Schriftsatzes gedient zu haben und verbleibe
mit freundlichen Grüßen