Die Schere im Kopf

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich schreibe Sie heute an als Redakteure  der Rheinischen Post. Und zwar geht es mir um die Art der Berichterstattung über Gewalttaten mit „Migrationshintergrund“. Wie fast die gesamte deutsche Zeitungslandschaft folgt auch die RP diesbezüglich den Empfehlungen des Presserates. Ich selbst habe diese praktizierte Gewohnheit am Beispiel der „Gladbacher Schläger“ als Satire in meinem Blog aufs Korn genommen:  https://hansberndulrich.wordpress.com/2012/06/04/rheinische-post-verstost-gegen-pressekodex/

Zu meinem Erstaunen gab es keine Abmahnung durch Ihren Verlag, obwohl ich Bildmaterial aus der Print-Ausgabe der RP verwendet habe.

Wohlgemerkt, es geht mir nicht um das Problem der Gewalt oder den politischen Umgang  damit als solchen. Kirsten Heisig, Heinz Buschkowski und andere haben da zur Genüge die Mängellisten aufgezeigt.  Deren Kritik ist konstruktiv, denn es werden Handlungsalternativen aufgezeigt.

Nein, mir geht es um die Entmündigung des Bürgers in einer  Medienlandschaft, die sich einen Erziehungsauftrag anmaßt und diesen über das  Informationsbedürfnis des Bürgers stellt.

Dr. Claus Schülke, seines Zeichens kein Redakteur sondern Jurist, hat sich dieses Phänomens  in einem (beiliegenden) Zeitungsartikel angenommen. Ich teile seine Kritik uneingeschränkt, insbesondere den Gedankengang  über die wohlfeil unterstellte  Unmündigkeit des erwachsenen Bürgers.  Das Vorenthalten von Fakten ist Zensur. Presserat und Medien halten ihre  Konsumenten  schlichtweg für unreif und stellen ihnen damit ein geistiges Armutszeugnis aus. Die  letzten prominenten Beispiele in diesem Zusammenhang waren die Reportagen über den gewaltsame Tod des niederländischen Linienrichters kurz für den Weihnachtsfeiertagen.  Trotz ausführlicher Berichterstattung in deutschen Medien blieb die Herkunft der Täter unerwähnt.

Ich habe indessen meine Zweifel, ob alle Journalisten mit der geltenden Sprachregelung glücklich sind. Denn oftmals wird die Vorgabe des Presserates  im Detail  sabotiert.  Wenn etwa im Kontext berichtet wird, daß sich der Hauptverdächtige in die Türkei abgesetzt habe, dann ist mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu vermuten, daß der Totschlag an einem Vietnamesen keinen rechtsradikalen Hintergrund hatte. Oder wenn der Hintergrund der Täter offen in Leserbriefen oder Online-Kommentaren thematisiert wird. So etwa in der FAZ:

Die Lichterketten hätten kein Ende genommen

Die Lichterketten hätten kein Ende genommen

Ich wäre interessiert zu erfahren, wie  Sie bzw. Ihre Kollegen mit dieser „Schere im Kopf“ umgehen. Geschieht es aus innerer Überzeugung heraus um einem Erziehungsauftrag am  unmündigen Bürger gerecht zu werden? Oder ballt sich da doch bei dem einen oder anderem die Faust in der Tasche?  Mir ist bewusst, daß sich wohl kaum jemand aus den Redaktionsstuben dazu unbefangen und offen äußern wird. Wäre es mit einer Kolumne? Ich denke, daß z.B. Dr. Claus Schülke nichts dagegen hätte seinen Beitrag in der RP als Gastkommentar zu veröffentlichen. Seine Kontaktdaten in Hamburg sind leicht recherchierbar. Vielleicht gibt es  einen anderen Weg, die persönliche Einstellung der Redakteure öffentlich zu machen.

Mit freundlichen Grüßen

          Bernd Ulrich

Nachfolgend der Artikel von Claus Schülke:

©  JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/12 14. Dezmber 2012

http://www.jungefreiheit.de/Archiv.611.0.html

Pressekodex   Eine Zensur findet statt    Claus Schülke

Schon seit Jahren erscheinen in der  Berichterstattung fast aller Medien über Straftaten mit Beteiligung von  Ausländern seltsam diffuse Begriffe rund um Tat- und Täterbeschreibung wie etwa „Ehedrama“, „Ehemann“, „Beziehungstat“, „Berliner“, „jugendliche Banden“, seltener auch noch „Großfamilie“ „Südländer“ und dergleichen. Jeder Leser und  Zuschauer kennt das – jüngstes Beispiel sind „holländische Amateurfußballer“ (siehe auch Seite 17).

Der Grund dafür ist in der Öffentlichkeit aber  nach wie vor kaum bekannt: Das ist der vom Deutschen Presserat schon im Jahre  1973 herausgegebene und feierlich dem damaligen Bundespräsidenten Gustav  Heinemann übergebene Pressekodex, an den sich seitdem alle Medien zu halten  haben. Ziffer 12 (Diskriminierung) dieses Regelwerks bestimmt, daß niemand wegen  seines Geschlechts, einer Behinderung oder seiner Zugehörigkeit zu einer  ethnischen, religiösen, sozialen oder nationalen Gruppe diskriminiert werden  darf.

Diese Regelung ist zwar redundant, um nicht zu  sagen, eigentlich überflüssig. Denn Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes  bestimmt unter anderem genau dieses und übrigens wesentlich umfassender  (beispielsweise regelt er, daß einerseits auch niemand wegen jener und anderer  Eigenschaften bevorzugt und andererseits niemand wegen seiner politischen  Anschauungen benachteiligt werden darf). Infolge der sogenannten Drittwirkung  der Grundrechte gilt dieser Artikel als unmittelbares Rechtsgebot auch für die  Medien und deren Mitarbeiter. Aber gut, die Wiederholung grundgesetzlicher  Gebote in untergesetzlichen Regelwerken schadet ja nie.

Nun gibt es inzwischen eine einzige, Jahre später  aufgestellte „Ausführungsrichtlinie 12.1“ dazu. Dort ist, und spätestens jetzt  wird es interessant, folgendes bestimmt: „In der Berichterstattung über  Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen,  ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis  des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht. Besonders ist zu  beachten, daß die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.“

Während das Diskriminierungsverbot Ziffer 12 eine  auch gesellschaftlich anerkannte Selbstverständlichkeit ist, ordnet die  Ausführungsrichtlinie – offensichtlich das einzige, was dem Presserat zum  Diskriminierungsverbot bis heute eingefallen ist – bezüglich dieser Täterdetails  und unter der dort genannten Voraussetzung das Schweigen der Presse an. Er  markiert damit ein deutlich gestörtes Verhältnis der Medien zur eigenen  Wahrhaftigkeit einerseits und zum Bürger andererseits. Doch eins nach dem  anderen.

Diskriminierung bezeichnet nach heutigem  Sprachgebrauch im politisch-soziologischen Raum allgemein eine  gruppenspezifische Benachteiligung oder Herabwürdigung von Gruppen oder  Individuen. Der von der Berichterstattung Betroffene selbst aber begreift seine  eigene Herkunft/Staatsangehörigkeit naturgemäß nicht als ihn herabwürdigenden  oder benachteiligenden Umstand. Das gleiche gilt für die Gruppe beziehungsweise  die Minderheit insgesamt: Vietnamese, Franzose, Libanese, Türke, Deutscher usw.  sind für das Individuum und die jeweilige Gruppe – zu Recht – positiv besetzte  Begriffe, und das ist auch gut so.

Deshalb kann den Täter oder Verdächtigen allein  die wahrheitsgemäße Erwähnung insbesondere seiner Nationalität oder Herkunft nie  diskriminieren, dies natürlich nur so lange nicht, wie über die Sachverhalte im  übrigen nur wahrheitsgemäß, insbesondere ohne daran anknüpfende unwahre oder  unsachliche Zusätze wie etwa Verunglimpfungen, Verächtlichmachung, üble Nachrede  und dergleichen berichtet wird, was den Medien wohl auch weitgehend gelingt.

Wenn das alles so ist, dann fehlt der  Ausführungsrichtlinie 12.1 der innere Bezug zur Leitlinie Ziffer 12. Sie hat in  Wahrheit nichts mit Diskriminierung zu tun, sie ist vielmehr ein unter dem  kostbaren Mantel des grundgesetzlichen Gleichbehandlungsgebots verstecktes,  infames Instrument zur Erzwingung medialer Selbstzensur. Medien sind nach dem  freiheitlich-demokratischen Selbstverständnis westlicher Demokratien zuallererst  und uneingeschränkt der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit in der Berichterstattung  verpflichtet; nicht von ungefähr heißt es in Artikel 5 Absatz 3 GG: „Eine Zensur  findet nicht statt.“ Staatlich veranlaßte journalistische Lüge zu politischen  Zwecken – seit jeher Inbegriff der Zensur – ist als eines der wichtigsten  Werkzeuge totalitärer Systeme nicht nur verwerflich, sie ist schlicht verboten.  Darüber besteht an sich kein Streit. Nichts anderes hat für staatlich geförderte  oder auch nur gebilligte, durch nichtstaatliche Institutionen auferlegte  Verpflichtung zur Lüge zu gelten. Auch das sollte unstrittig sein.

Nun ist das Verschweigen, das Beschönigen, das  Verfälschen, das Verschleiern – wohlgemerkt – sachbezogener Tatsachen durch  Medien, sofern es vorsätzlich oder gar systematisch geschieht, auch nichts  anderes als Lüge, zumal nicht ernsthaft bestritten werden kann, daß in der  konkreten Situation ausländische Nationalität und Herkunft in diesem Sinne  sachbezogene Umstände von Straftaten sind und zugleich für die Öffentlichkeit  von hohem Informationsgehalt; nicht zufällig sagte Bundeskanzlerin Merkel in  einer Videobotschaft am 18. Juni 2011: „Wir müssen akzeptieren, daß die Zahl der  Straftaten bei jugendlichen Migranten besonders hoch ist.“ Der von ihr  angesprochene extrem hohe Prozentsatz der Beteiligung bestimmter Gruppen an  schweren Gewalt- und Tötungsdelikten beunruhigt nicht nur die Bevölkerung, die  inzwischen schon bei bloßer Verwendung des Worts „Messer“ zu Deutungen gelangt – dieses Problem muß auch und zuvorderst im öffentlichen Diskurs aufgearbeitet  werden, insgesamt mit dem Ziel, mit rechtsstaatlichen Mitteln und  sozialverträglich zur Verbesserung dieser Zustände, zur Reduzierung dieser  Straftaten zu gelangen. Zu diesem Diskurs gehört unverzichtbar die ungeschönte,  uneingeschränkte, dabei aber immer sachlich bleibende öffentliche  Berichterstattung. Der nur für den Dienstgebrauch bestimmte ungeschminkte Report  in die ministeriellen Amtsstuben ersetzt das nicht einmal ansatzweise.

Soweit laut Ausführungsrichtlinie 12.1 die  Erwähnung von Nationalität oder Herkunft dann tatsächlich gegenüber Minderheiten „Vorurteile“ schüren sollte – hier ein unangebrachter Begriff, richtig wäre es,  von ungerechtfertigter Verallgemeinerung zu sprechen –, wäre dem durch  staatliche und nichtstaatliche Aufklärungsarbeit zu begegnen und, so-fern  notwendig, durch administrative Maßnahmen, gegebenenfalls bis hin zur Anwendung  des Strafrechts, aber stets nur gegenüber demjenigen, der in dieser Weise  hervortritt. Niemals aber ist die staatlich abgesegnete journalistische Lüge das  richtige oder auch nur ein zulässiges Mittel gegen das Entstehen etwaiger  Vorurteile im genannten Sinne. Die Ausführungsrichtlinie verpflichtet genau zu  dieser Lüge. Das ist das eine.

Das andere ist die hier deutlich werdende massive  Verachtung des Lesers/Zuschauers als jemandes, der nicht reif sein soll für  wahrhaftige Berichterstattung, weil er doch mit der Wahrheit nicht richtig  umgehen könne und weil sie ihn zu einer falschen oder auch nur unkorrekten Sicht  der Dinge verleite. Die Medien fühlen sich berufen, ihn davor zu bewahren. Der  Grad journalistischer Wahrhaftigkeit soll am Ziel des Systems zur Erziehung des  Bürgers zum „neuen Menschen“ ausgerichtet werden. Je mehr die Wahrheit diese  Erziehung, die Einhaltung bestimmter, definierter gesellschaftlicher  Normenkomplexe zu gefährden geeignet ist, um so mehr muß die Wahrheit  unterdrückt oder ver-schleiert werden. Dem Bild eines mündigen und weltoffenen  Bürgers entspricht das nicht, vielmehr dem des Untertans.

Und überhaupt, wo soll das enden? Was könnte den  Presserat noch daran hindern, eine Ausführungsrichtlinie 12.2 zu beschließen,  wonach bei der Berichterstattung über Korruption in Mitgliedsstaaten der EU die  Identität des Staates nur dann erwähnt wird, wenn für das Verständnis des  berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht?

Schließlich: Die Ausführungsrichtlinie und ihre  von den selbstverpflichteten Medien mit den Jahren immer mehr und bis ins  Absurde restriktiv gehandhabte Auslegung des Kriteriums „Sachbezug“ erweist  immer deutlicher deren fast unbegreifliche Unterschätzung der kognitiven und  intellektuellen Möglichkeiten der Bürger, insbesondere deren Fähigkeit, den  Wahrheitsgehalt im oben genannten Sinne gelogener Berichterstattung schlicht  anhand der erlebten Wirklichkeit zu ermitteln und danach den Inhalt des  Berichteten zu definieren. Das haben sich die Macher und vor allem die Anwender  der Ausführungs-richtlinie wohl so nicht vorgestellt.

Längst können die Bürger zwischen den Zeilen lesen – ganz so, wie es zu Zeiten der NS-Diktatur und des real existierenden  Sozialismus zu DDR-Zeiten gelernt worden war. Längst wissen sie die  Verschleierungen zu deuten, sie brauchen hierzu auch nicht einmal mehr die  früher von der Presse bisweilen noch angegebenen ausländischen Vornamen der  Täter. Längst ordnen sie Herkunft und Nationalität nur dann noch dem Täter  abweichend von der selbst erlebten oder vom unmittelbaren persönlichen Umfeld  berichteten Wirklichkeit zu, wenn nicht in den Medien ausdrücklich vom „deutschen Familienvater“, von „Wolfgang B.“ oder aber, wie bundesweit unisono  und in seltsamer Inkonsequenz vor kurzem geschehen, beispielsweise ganz präzise  von „vietnamesischen Banden in Berlin“ die Rede ist. Man muß sich zu diesen  Berichterstattungen nur einmal die vieltausendfachen Leserkommentare in den dann  fast immer schon kurze Zeit später geschlossenen Kommentarbereichen der großen  Online-Medien anschauen. Die werden ob ihrer hilflosen Umschreibungsversuche oft  nur noch verlacht.

Die Bürger sind so viel klüger, als  viele etablierte Medien glauben. Die täten also gut daran, schleunigst  umzukehren und zu wahrhaftiger Berichterstattung zurückzufinden. Dann wird ihnen  der Leser und Zuschauer vielleicht mittelfristig auch wieder glauben.

www.presserat.info/inhalt/der-pressekodex/pressekodex.html

Dr. Claus Schülke, Jahrgang 1947, arbeitet als  selbständiger Rechtsanwalt in Hamburg. Er promovierte auf dem Gebiet des  Schiedsgerichtswesens.

Quelle: http://www.jungefreiheit.de/Archiv.611.0.html