Drei Marterln am Weg
Veröffentlicht: 22. November 2012 Abgelegt unter: Skurriles, Besinnliches, Vermischtes | Tags: hora mortis, Marterl Hinterlasse einen KommentarWer in unserer schönen bayerischen Heimat als Wanderer unterwegs ist, den blauen Himmel über sich, die Berge mal nah, mal fern, dem begegnet es oft unvermittelt: Ein Wegzeichen des memento mori, von weiten könnte man es für ein Grab halten, doch ist dort niemand zur letzten Ruhe gebettet. Es sind es Zeichen der Andacht, denn sie erinnern an jemanden, dessen Schicksal sich genau an jener Stelle erfüllt hat. Manche sind ein paar hundert Jahre alt, viele bedeutend jünger. Einige sind kunstvoll in einen Bildstock eingearbeitet, manche schmückt einfach nur ein schlichtes Kreuz. Das Grab desjenigen, der dort die Schwelle von Leben zum Tod überschritten hat, mag auf dem Friedhof seiner Gemeinde schon längst nicht mehr auffindbar sein. Das Marterl hingegen erinnert immer noch an ihn und die Umstände seines Todes. Und mahnt uns, die Lebenden, daß uns die Hora Mortis noch bevorsteht. Marterl, das ist ein schöne bescheidene Sprachfärbung des Oberlandes, eine verkleinernde Diminutivform für ein Denkmal. Aber in aller Regel wurde dort niemand gemartert, wie der Name vermuten lassen könnte. Aber allen ist gemein: Der Tod kam schnell, unverhofft ohne jede Warnung. Von dreien dieser Marterln will ich berichten, jedes erzählt ein anderes Schicksal.
Der Maderspacher Romuald. Wer als Wanderer im Ammertal den Weg geht vom Dörfchen Graswang rüber nach Schloß Linderhof, über Wiesen und durch Wälder, dem begegnet auf halber Strecke desWeges, etwa nach einer halben Stunde ein gewaltiger, kunstvoll geschnitzer Holzklotz am Wegesrand. Er erzählt von einem Holzfällerschicksal: Der Tod trat in den kühlen Wald und nahm den Maderspacher Romuald man sieht einen stürzenden Baum, der auf den strauchelnden Maderspacher fällt, die Hände verzweifelt in die Höhe gereckt. In der Rechten noch das Beil. Mit etwas Phantasie sieht man in den Astlöchern die Fratze des Todes und zwei Finger, die nach dem Madersbacher greifent…. So geschehen am 28. Oktober 1937
Immer, wenn ich den Weg durch das von den Felsen des Ammergebirges eingerahmte Graswangtal gehe, sei es Sommer oder Winter, bleibe ich vor diesem Mahnmal stehen: Was geschah damals? Warum konnte der Madersbacher dem Baum nicht entkommen? Fiel der Stamm in die falsche Richtung? Stolperte er über eine Wurzel? Die Holzarbeit zu jener Zeit war schwer, nicht umsonst hießen die langen Wiegesägen das „Schinderblech“. Eine schweißtreibende, Knochen-zehrende Arbeit. Ein Moment der Müdigkeit, der Unachtsamkeit, der alles entscheidet. Oft denke ich, ob der Holzklotz, der nun vom Ende des Madersbachers berichtet, aus genau dem Baum geschnitzt wurde, der ihn erschlagen hat.
Genoveva Reindl. Der Weg führt uns zurück von Graswang über Oberammergau nach Unterammergau. Mit dem Auto ist es etwa eine Viertelstunde, der Wanderer hingegen muß mit einem Fußmarsch von etwa drei Stunden rechnen. Nicht weit vom Ortsende Unterammergau, am Fuß der sanften Kuppen des Hörnles berichtet uns ein Bildstock neben einer kleinen Kapelle von den letzten Tagen eines Bauernmädchens: Beim Einmarsch der Amerikaner am 29.4.1945 wurde hier Genoveva Reindl angeschossen und starb an ihren schweren Wunden. Man steht vor einem reliefartigen kleinen Holzbild, naiv gemalt wie von Kinderhand. Man sieht ein Flugzeug, aus dem auf die flüchtende Frau geschossen wird, die noch vergebens versucht sich unter einem Baum zu verbergen. Das Bild ist eine einzige Anklage: Warum musste diese junge Frau so kurz vor Ende des Krieges sterben? Sie war einfach nur auf dem Feld, vielleicht hatte sie das Vieh ausgetrieben, einen Zaun repariert, was auch immer. Für den Tiefflieger war es nur eine sportliche Herausforderung. Es ist nämlich nicht leicht, aus einem schnell fliegenden Flugzeug eine einzelne Person zu treffen. Einfach mal probieren und siehe da: Treffer. So als ob man eine
Tontaube getroffen hat. Nur mit dem Unterschied, daß dort ein Mensch qualvoll vom Leben zum Tode gebracht wurde. Wie lange mag noch Genoveva gelitten haben? Stunden? Tage? Hat der Pilot jemals erfahren, wessen Schicksal er da besiegelt hat? Hätte es ihn überhaupt interessiert? – Wir, die wir vor diesem Marterl stehen, wissen nichts weiter von Genoveva. Wie alt war sie, war sie verliebt, war ihr Schatz vielleicht selber im Krieg geblieben? Der 29. April 1945 war ein Sonntag. War sie in der Kirche, hatte für ihre Lieben und für sich gebetet? Wir wissen es nicht. Aber es gibt Menschen, die Genoveva Reindl nicht vergessen haben. Die Farbe wirkt frisch, hier hat jemand erst vor kurzen restauriert. Ihr Andenken lebt weiter.
Peter Lüdemann und Karin Heim Am Ortsausgang von Rottenbuch, auf dem Weg nach Ilgen steht ein kunstvoll verziertes schmiedeeisernes Kreuz am Straßenrand. Landkarten bezeichnen die Straße als Nebenstrecke. Eng, kurvig, bergauf, bergab durch das schöne Voralpenland. Der 27. Mai 1979 ist ein Sonntag. Eine Gruppe junger Motorradfahrer hat sich genau jene Straße für ihre Tour ausgesucht. Der Zufall wollte es, daß auch ich an jenem Tag in Rottenbuch war. Als ich vom Spaziergang heimkam, erzählte man mir die Tragödie: Dort oben, hinter der Bergkuppe, in der ersten Rechtkurve, da kam der Gruppe ein Bus entgegen. Ein Motorrad fuhr noch rechts vorbei, das nächste links, das dritte prallte mit voller Wucht auf den Bus. Der Fahrer war sofort tot, das Mädchen lebte noch einige Stunden. – Da wurde mir klar, was es mit dem Hubschrauber auf sich hatte und mit der Gruppe junger Leute in Lederkombis, die ich kurz zuvor mit betretenen Mienen auf dem Dorfplatz angetroffen hatte.
Das Ganze ist nun schon dreiunddreißig Jahre her. Wenn aus Peter und Karin ein Paar geworden wäre, vielleicht wären sie heute schon Großeltern. – Ich komme häufig an diesem Kreuz vorbei, die Schrift ist immer noch gut lesbar. In den ersten Jahren wurden dort noch Blumen abgelegt. Am diesem Allerheiligen heuer hat sich niemand mehr darum gekümmert. Sind die Eltern verstorben, Geschwister fortgezogen? Ich habe mir vorgenommen, dort beim nächsten Mal ein Grablicht anzuzünden.