Der 9. November vor hundert Jahren

War da was? Der neunte November, der verflucht deutsche Tag, wie ein Historiker völlig zurecht feststellte: 1918, 1923, 1938, 1989.  Vor fünf Jahren wurde mit medialer Begleitung an das hundertjährige Jubiläum der Ausrufung der deutschen Republik durch Philip Scheidemann am 9. November 1918 erinnert.  Und am 9. November 2019 gedachten wir des dreißigsten Jahrestages des Mauerfalls: 9. November 1989. Zahlreiche Fernsehsendungen, Presseberichte, Diskussionsrunden und Zeitzeugeninterviews wurden dem Ereignis gewidmet.

Der 9. November 1923; vor genau einhundert Jahren? War das was? Richtig, der Hitlerputsch als bewaffneter Marsch zur Feldherrnhalle in München brach im Gewehrfeuer der bayerischen Polizei blutig zusammen. Es gab sechzehn Tote, davon dreizehn auf Seiten der Hitleranhänger und vier bei den Polizisten. Pater Rupert Mayer SJ (ein guter Katholik kann niemals Nationalsozialist sein) gab den tödlich Getroffenen die Sterbesakramente.  Hitler konnte zunächst entkommen, wurde dann verhaftet und später verurteilt. Es sollte noch zehn Jahre dauern, bis Hitler und seine Gefolgschaft tatsächlich an die Regierung kamen.  – Die Nationalsozialisten schufen später einen gewaltigen Kult um die Ereignisse des 9. November 1923, der zum nationalen Feiertag erhoben wurde.  Die Toten wurden zu „Blutzeugen der Bewegung“ verklärt, denen in alljährlich in pompösen Kundgebungen und Aufmärschen gedacht wurde. – Mit Ende der NS-Herrschaft war es damit vorbei; die Feldherrnhalle bekam ihr ursprüngliches Aussehen zurück.

Die Zeit der NS-Herrschaft ist in unseren heutigen Medien, egal ob Film, Fernsehen oder Publizistik immer noch allgegenwärtig. Die Erinnerung an die vom damaligen Regime verübten Verbrechen wird beständig wachgehalten; die Zeit der Aufarbeitung ist längst nicht vorbei. „Auschwitz als Geburtsstätte und zugleich Wurzel des wiedervereinigten Deutschlands“; das ist heutzutage eine gängige Lesart.

Vor diesem Hintergrund erstaunt, dass dieser hundertste Jahrestag, der für die Genese des deutschen Faschismus (Mussolinis Marsch auf Rom 1922 war das historische Vorbild für Hitler) äußerst bedeutsam ist, in den deutschen Mainstream-Medien schlichtweg übergangen wurde. Lediglich der Münchner Merkur sowie die Süddeutscher Zeitung erinnerten an das damalige Geschehen.  Die Junge Freiheit brachte eine ausführliche Rekonstruktion; eine genaue Darstellung findet sich auch auf Wikipedia.

Was könnte der Grund sein für diese offensichtliche Ignoranz der Leitmedien?

Sehen wir es von der Warte: Seit Jahren erfolgt der Rückblick auf die deutsche, europäische und US-amerikanische Geschichte ab Mitte des 19. Jahrhunderts stets zeitgeistig verbrämt. Will sagen: Es wird jeweils das besonders herausgestellt, was der jeweiligen Interpretation des Erzählers zuträglich ist. Und dieser bedient in aller Regel den zeitgeistigen Narrativ. Was nicht ins Schema passt geht unter.

Mit einer für ein breites Publikum mundgerechten Deutung der Ereignisse von 1923  tun sich die üblichen Feuilletonschreiber heutzutage schwer.  Denn dies erfordert eine profunde Kenntnis der damaligen Rahmenbedingungen in der noch jungen Republik sowohl bei den Autoren als auch bei den jeweiligen Lesekonsumenten. Der Unbefangene würde etwa die Fragen stellen: Warum München, warum nicht Berlin, der Sitz der Reichsregierung? Was war der konkrete Auslöser des Putsches? Wieso hatte der Putsch keinen Erfolg? Was war das Programm der Putschisten?

Eine vertiefte Kenntnis der Zustände und Entwicklungen in Deutschland und Europa in den ersten Jahren nach dem Kriegsende 1918 ist in der heutigen bundesrepublikanischen Gesellschaft bestenfalls rudimentär in wenigen Köpfen vorhanden. Und nach allgemeiner Intention soll das auch so bleiben.  Denn interessierte Kreise versuchen derzeit einem unkundigen Publikum zu suggerieren, dass heute wiederum Weimarer Verhältnisse drohen und damit eine diktatorische Machtübernahme wie 1933 mit all ihren fatalen Folgen für der Tür stehen könnte. Jeder, der sich in der Geschichte jener Zeit auskennt, weiß wie absurd und hirnrissig ein solcher Vergleich ist.

Auf den Tag genau fünfzehn Jahre nach dem gescheiterten Hitlerputsch brannten in Deutschland die Synagogen, wurden jüdische Geschäfte geplündert und die schon Entrechteten auf widerwärtigste Weise drangsaliert.  Die Kenntnis der Geschehnisse um den 9. November 1923 ist wichtig um den weiteren Gang der Geschichte bis hin zum Pogrom von 1938, der „Kristallnacht“, wie es einst genannt wurde, zu begreifen.


One Comment on “Der 9. November vor hundert Jahren”

  1. Anonymous sagt:

    An einem Putsch sind Exekutiv-Organe der aktuellen Macht beteiligt, außerdem werden aktuelle Bestimmungen genutzt. Das gabs beides am 9.11.23 nicht – also wars kein Putsch.
    Ich empfehle, den 9.11.1923 als „Putativ-Putsch“ zu bezeichnen.

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